Mai 2013
Befund kursiv. Metastasen jetzt in drei Segmenten der Leber.
Aus eins mach viele. Die Metastasen sind in zwei Monaten rasant gewachsen. Die Ärzte raten mir dringend, an der Studie teilzunehmen. Ich halte den Hörer in der Hand und erstarre in meiner Käferangst: Es klopft, es schreit, es wütet in mir: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.
Spaziergang mit dem Freund, der mich stützt, dass ich nicht vom Deich kippe. Er schmettert den Scherz gegen meine Angst. Bist du schon einmal auf einem Schaf geritten? Nein, noch nie. Wir versuchen es erst gar nicht, den vor uns Reißaus nehmenden Schafen hinterherzujagen. Ich überlege, ins Wasser zu gehen. Nicht für die Reise ohne Wiederkehr. Will mir die Kleider vom Leib reißen, mich ins eisige Wasser stürzen, ungeachtet der 12 Grad und der noch geringeren Wassertemperatur den Körper spüren, den Kopf freikriegen. Der Freund mahnt: Es ist viel zu kalt, du wirst dich erkälten. Gehorsam halte ich nur die Zehen ins Nass , sehe meinem Gedankenspiel zu, wie es davonschwimmt und lasse mich zum Italiener einladen.
Diskutieren zu Pizza Rucola und Cola Sarg-Modelle. Ein Eiche-Rustikal-Monstrum kommt mir nicht in die Tüte. Da nagle ich mir lieber eine Holzkiste selber zusammen. – Der Papst hatte einen, der war echt chic. Moment, ich google das mal. Wow, schlicht, weiß, sieht einfach aus und war vermutlich sauteuer, Modell Designer. Darin lässt es sich stylish liegen. Kann man sich einen Sarg auf Wunsch anfertigen lassen? Vielleicht gibt es eine App: Der kleine Sarg-Designer oder so was Ähnliches. Danach guck ich ein andermal.
Zuhause spüle ich den Sand von den Zehen, falle taub in die Kiste.
Januar 2015
Befund positiv: alte Metastasen in der Leber wieder aktiv, neue Metastasen, drei kleine Metastasen in der Leber, keine Läsionen im Kopf zu sehen.
Befund gelesen. Falle in komplette Winterstarre. Habe nicht einmal Tränen, um zu weinen. Ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist, zappelt noch mit den Füßen, versucht wieder auf die Füße zu kommen. Ich bin eher ein Käfer Käfer, der in Totenstarre vor dem Feind verfällt, ein Gregor Samsa in vier harmlosen Wänden, die mir nix tun, aber der Krebs tut mir alles.
Kann nicht weinen, kann nicht schreiben, kann überhaupt nichts. Verlege mich auf Büroarbeiten, sortiere Fotos für ein Fotoalbum, führe einen mehrstündigen banalen Kampf, um digital Fotos nachzubestellen. Scheitere daran, ein Jahr in 678 Fotos ins Album zurückzuholen. Der wütende Kampf gegen den virtuellen Gegner lenkt mich zumindest so ab, dass ich mich danach etwas besser fühle, stiefle zur Post und wieder zurück. Einatmen und ausatmen. Das Patentrezept Bewegung funktioniert.
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Tröstlich zu wissen, dass ich weiß, wo ich liegen werde. Noch ragen die Äste der schmalen Hainbuche blank in den Himmel, doch bald malt sie sich mit frischem Grün neu, webt sich der Ruheforst einen Teppich blütenweißen Teppich aus Buschwindröschen. Wir spazieren durch den Wald, friedliche Stille erfüllt mich. Dietmar bekämpft das Unglück mit seinem forstlichen Wissen: Er will für mich den optimalen Zukunftsbaum, den Baum mit der maximalen Widerstandskraft, der maximalen Lebensdauer. Der Gedanke tröstet mich. Mein Baum wird jedem Sturm trotzen! Nein, nach Kaffee trinken ist uns nach dieser Art Spaziergang nicht zumut. Wir fahren heim, schweigend.
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Ich grüble darüber, wem ich welchen Schmuck vererbe. Ich kann mich nicht entscheiden. Ich schreibe die Adressliste für die Trauerkarten. Einige Lücken muss ich noch füllen. Aber rufe ich dann an und sage: Hey, lass mal deine Adresse rüberwachsen, damit ich dir eine Trauerkarte schicken kann, wenn ich tot bin? Tarne ich mich mit harmlosen Sätzen: Ich habe gerade rein zufällig festgestellt, dass ich deine Adresse gar nicht habe. Könntest du sie mir vielleicht schicken, meine Adresskartei ist so einsam?
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Ich wähle einen Trauerspruch aus meiner Sammlung von Todesanzeigen. Diese lese ich in der Zeitung täglich, zum Frühstück, stets auf der Suche nach meinem perfekten Trauerspruch. Der eine, der nur für mich gemacht ist und nur zu mir passt. Mein Perfektionismus verfolgt mich bis ins Grab. Fündig wird ich bei Rilke. Natürlich. Meinem Lieblingsdichter. Der Parole „gehofft, gekämpft und doch verloren“ zeig ich die rote Karte. Da erscheinst du im Tod als kompletter Versager. Als könnte man es mit dem Krebs auch nur ansatzweise aufnehmen! Ich empfinde Demut vor dieser Krankheit, ja, ich habe Respekt. Das ist schon genial, wie er das macht, dieser verdammte, beschissene Krebs, den ich anschreien, dem ich ins Gesicht spucken, ein Messer zwischen die Rippen treiben will. Stattdessen seh ich ihm fassungslos staunend zu, wie er ohne erkennbaren Plan sein zerstörerisches Werk vorantreibt. Wir beschießen ihn mit Nuklearkanonen, wir treiben Giftgas durch unsere Venen, wir schneiden weg, was wegzuschneiden ist, wir schnippeln, schneiden und verstümmeln, wir vergiften, wir merzen aus, wir machen alles, was medizinisch geht und vieles, was menschlich gar nicht geht – und der Krebs frohlockt: Ätsch, ich bin Ahlerich, und schlüpft in seine Tarnkappe, und quietscht: Ätsch, ich bin Frodo, und dreht am Ring- und, schwups, ist er scheinbar weg. Kein Bild kann ihn einfangen, kein Gerät auspüren. Aber er lauert, heimlich feixend und still. Und wenn du nicht, aber auch gar nicht mit ihm rechnet: Dann kommt er wieder aus Deckung und johlt: Schach Matt!
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Besprechung des Befunds
Die morituri aufgereiht in der Tumorambulanz. Galeere der Leidvollen, aber jeder rudert für sich allein. Gesichtsstarre aller paart sich mit sinnlosem Zeitvertreib. Eine Frau löst Multi-Sudoku, den Blick nie vom Rätsel hebend. Eine zweite redet pausenlos auf ihren Mann ein. Er brummt gelegentlich einen Laut, ein Wort, fast verstummt, unbewegten Gesichts. Gegenüber ein älterer Mann, ein Jan-Fedders-Kopf mit breiten Koteletten, angegrautem Haar, aber doch leichenfadem Gesicht, hockt, den Oberkörper nach vorn geneigt, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet – zum Gebet? Neben ihm ein majestätischer Kaiser-Wilhelm-Bart, der sich an einem Regenschirm festhält, die Frau gegenüber krampft sich um ihre Handtasche. Schweigen. Jeder sieht an jedem vorbei.
Eine Frau kommt aus dem Besprechungsraum, ihre Mutter ist noch drinnen. Vermutlich wird sie jetzt körperlich untersucht. Das Procedere ist mir bekannt. Erst reden, dann ausziehen und kontrollieren. Nach dem Befund innen der Blick von außen. Die Frau wischt sich Tränen ab, greift zum Handy. Kurz darauf öffnet sich die Tür, die Mutter tritt heraus, die Augen rotgeweint. Mutter und Tochter sitzen nebeneinander, die alte Dame bewahrt Haltung mit Rezepten: Spinat mit Mozzarella gegen den Wahnsinn neuer Befunde, mögliche Kehrtwenden des bisherigen Lebens. Und was machen wir? Wir bekämpfen den Irrsinn der Angst mit einer Partie Scrabble. Digital. Wie jeden Tag. Ich gewinne mit dreißig Punkten Vorsprung. Der Mann führt 5:4 in unserer ewigen Liste bis 10.000. Diese Runde muss ich gewinnen. Mein Kampfgeist rüstet sich für ein Gefecht, dem er sich gewachsen fühlt, ein Sieg eine Option ist. Wenn er auch noch so sinnlos ist. So überleb ich. Jetzt.