Jahr 2: Endstadium

März 2013

Metastasen in der Leber. Die Ärztin im UKSH befundet: „Wir können Sie von Ihrem Krebs nicht heilen. Aber sie haben noch viele Monate zu leben.“

– Wie sag ichs meinen Kindern?

**

Eine Woche später. Es den Kindern gesagt. – Wir loggen uns als Familie aus, fahren tags drauf zusammen ins Spaßbad an die Ostsee und schwimmen dem Krebs einfach davon.

**

Studienfahrt nach Rom
Fährt man nach einer tödlichen Diagnose auf Studienfahrt? Wochenlang überlege ich, ob ich meine Klasse auf ihrer Studienfahrt nach Rom wie geplant als Klassenlehrerin begleiten möchte. Bin ich der Belastung gewachsen? Will ich in der derzeitigen Situation überhaupt so viel der mir allem Anschein nach verbleibenden Restzeit mit schulischen Angelegenheiten verbringen? Nach langem Ringen entscheide ich mich dafür, habe ich mich doch schon monatelang auf diese Reise gefreut, zumal ich die Ewige Stadt noch nicht kenne. Auch erscheint alles, was Normalität suggeriert, willkommen.

Immerhin: Schwerbehindert zu sein, erweist sich in der Ewigen Stadt als Glücksfall, zumindest am Petersdom. An der Heerschar von Touristen, die zu einer über den ganzen Petersplatz reichenden Schlange aufgereiht geduldig auf ihren Einlass in den Dom warten, gehe ich mit meinem Kollegen flugs vorbei und stracks zur martialisch bewehrten und behelmten Schweizer Garde, die mich freundlich zum Haupteingang lotst. Das hilfsbereite Angebot, einen Rollstuhl für mich organisieren, lehne ich dankend ab. Laufen geht noch.

Zur Aufsichtsplattform fahren wir zu zweit dennoch, von security begleitet, das erste Stück im Lift. Die verbleibenden Stufen meistere ich mit stechenden Schmerzen, aber niemand wird mich von dem unbeschreiblichen Anblick abhalten, der sich von der Kuppel des Petersdoms bietet.

**
Morgen beginnt die Studie: Fifty-fifty, ob ich das bereits zugelassene, aber mit Nebenwirkungen belastete Medikament Zeboraf bekomme oder das Kombipräparat, das nach bisherigen Erfahrungen weniger Nebenwirkungen zu haben scheint. ZEEE-BO-RAFFFF, schon der Name klingt nach Kotzen.

Ob ich mir die Studie überhaupt antun soll? Die Aussicht auf vieeellleicht ein paar Monate mehr – so die Statistik, sofern ich zu den immerhin 50% der Patienten zähle, bei denen das Präparat anschlägt – mit möglicherweise ausfallenden Haaren, warzigen Händen und Füßen, sonnenhöchstempfindlicher Haut und Übelkeit scheint mir ein wenig attraktives Angebot.

Fast kann ich es selbst nicht glauben, wie weit ich mich schon vom Leben entfernt habe. Die Gewissheit ist in mir, dass mir wenig Zeit bleibt, die verbleibende dazu da ist, Abschied zu nehmen. Seltsamerweise beruhigen sich so die Dinge für mich, als würde sich nun alles in eins fügen, in ein Ziel.

**

Die Ärztin im UKSH strahlt: Heute ist ein guter Tag. Sie bekommen das Kombipräparat.

Der Computer hatte das richtige Händchen. Ja, ich freue mich. Auf dem Uniklinikgelände setze ich mich in die Sonne und esse ein riesiges Eis.

Oft
Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, wird mir oft gesagt. Was soll ich tun? Nicht abwarten, sondern handeln, nicht schweigen, sondern reden, aber auch schweigen und reden, die Erkrankung zulassen, bleiben lassen, sein lassen, da sein, die Angst aufgeben, Fehler zu machen, zu verletzen. Mir kein KrebsMal malen.

**

Ein glücklicher Tag. Mit Johanna und Elsa fahre ich nach Hamburg, nachmittags wollen wir den „Nussknacker“ in der Inszenierung von John Neumeier sehen. Die Karten habe ich den Mädchen zu Weihnachten geschenkt. Bei der Gelegenheit wollen wir in Hamburg ein Kleid für Johannas Abiball finden.

Im „Nähstübchen“, einem kleinen Schneideratelier am Jungfernstieg, schlüpft Johanna in einen langen Seidenrock, dreht sich glücklich vor dem Spiegel und strahlt mich an. Schön sieht sie aus, meine Große! Maßanfertigung und Material haben ihren Preis. Ist mir egal. Sollte Johanna mal ein Hochzeitskleid kaufen, die Bilderbuch-Illusion einer Mama, werd ich nicht dabei sein, denk ich. Ich nehme Johanna fest in meine Arme und flüstere ihr ins Ohr: Schenk ich dir!

Letztes Jahr habe ich noch eine Freundin gebeten, mit Johanna ein Kleid auszusuchen, falls ich dazu nicht mehr in der Lage oder tot sein sollte. Kleiderkauf als Manifestation unverhofft gewonnener Zeit.

**

Kaffee oder Tee
Es gibt Leute, die gern Kaffee trinken und Leute, die gern Tee trinken. Und es gibt Leute, mit denen man Kaffee trinkt, und Leute, mit denen man Tee trinkt. Mit Kaffee assoziiert man andere Dinge als mit einer dampfenden Tasse Tee. Seh ich beim Kaffee die italienische Piazza vor mir, liegen beim Tee die warmen Wollsocken bereit. Kaffee und Tee haben ihren Platz zu ihrer Zeit.

So ist es auch mit den Freundschaften: In einer italienischen Kaffeebar krieg ich keinen Fencheltee. Den ich aber jetzt brauche, ob ich will oder nicht.

**

Die Amsel, die singt am Morgen.

**

Der Satz: Wir müssen uns mal treffen, gefolgt von einem Klagelied beruflicher Eitelkeit: Ach, ich hab soviel zu tun. Ich hab gar keine Zeit.

Ich nicke.

Ich hab auch keine Zeit – mehr.

**

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen lachenden Munds,
wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen mitten in uns.
(Rilke)

**

Ein Nachspiel

1.

Schön ist’s, miteinander schweigen,
Schöner, miteinander lachen, —
Unter seidenem Himmels-Tuche
Hingelehnt zu Moos und Buche
Lieblich laut mit Freunden lachen
Und sich weiße Zähne zeigen.

Macht’ ich’s gut, so woll’n wir schweigen;
Macht’ ich’s schlimm —, so woll’n wir lachen
Und es immer schlimmer machen,
Schlimmer machen, schlimmer lachen,
Bis wir in die Grube steigen.
Freunde! Ja! So soll’s geschehn? —
Amen! Und auf Wiedersehn!
(Nietzsche)

* * *

Ihr glücklichen Augen
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!
(Aus: Goethe, Faust II)

**

Was mir genommen ist: die vitale Frische unbeschwerter Lebensfreude, das lebendige Glück kreativer Lust. Ich kann es nicht aufhalten; ich falle, falle in ein tiefes Loch, die Verzweiflung brennt mir Löcher ins Hirn, spiralt sich in alle Windungen, tackert und stanzt sich in jede Faser meines Leibs. Tackert, spiralt und stanzt und tackert, spiralt, stanzt und tackert, spiralt und stanzt und tackert, spiralt und stanzt – ein irrer Kreisel gellender Schwärze, geifernden Abgrunds, lähmender Ausweglosigkeit.

Wer soll es mit mir aushalten, wenn ich es mit mir selbst nicht aushalten kann? Mein Schneckenhaus ist eingerichtet, dahin ziehe ich mich zurück, da ists hübsch kalt in meinem Kobel gemütlicher Einsamkeit, wie ein waidwundes Tier, das sich zum Sterben in das Dickicht des Waldes zurückzieht, fliehe ich vor allem und allen, die mir lieb und teuer sind. Lasst mich, haut ab, geht alle weg, lasst mich alle allein, meinen Schmerz, den fühl ich ganz allein, ganz allein, den hab ich ganz für mich. Er umarmt mich so sehr, dass er mich erdrückt, dieser Schmerz, und hoffentlich, hoffentlich, drückt er so fest zu, dass mir bald die Luft wegbleibt.

Denn wenn ich ohnehin alles verloren habe, was mein Leben ausgemacht hat, warum sollte ich in diesem Leben bleiben? Ich will mich nicht häuslich einrichten in dieser miserablen Existenz des Arrangierens mit ach-da-geht-doch-noch-was oder ach, den Umständen entsprechend geht’s dir doch ganz gut. Die Umstände sind vielmehr so, dass ich keine Umstände machen will, denn für alle ist das Leben mit mir doch ein einziger Umstand, will sagen eine einzige Zumutung, von denen viele nicht den Mut haben, sich ihr zu stellen. Verständlich. Denn: Es gibt ein sehr sinnvolles Programm in der Natur für verschiedene Formen des Sterbens. Nur möchte man sich damit nicht beschäftigen.

**

Nachts ein schwerer asthmatischer Anfall. Ein seltsamer Chor pfeift ein lustigs Lied in meinen Lungen. Ich schwanke: Lieber einen Arzt um Hilfe rufen oder hoffen, dass mir das Pfeifen und Rasseln meiner Lungen den schnurstracksen Weg zur Hölle weist? Häng ich am Leben oder nicht? In der Nacht kann ich keine Antwort geben, doch als ich tags drauf die nächste Nacht fürchte, registriere ich, fast erstaunt, dass mein Herz wohl noch am Leben hängt.

Ich leb und weiß nicht wie lang / ich sterb und weiß nicht wan / ich fahr und weiß nicht wahin / mich nimmt wunder daß ich so frelich bin / wan ich bedenk den dot und di ewige pein / so mecht ich nicht so frelich sein. (Fassung 1688)

**

Ein guter Tag, ein reicher Tag. Getanzt mit der Gruppe der Choreographin. Die Frauen hören mir zu, kurz erzähle ich von meiner Diagnose und unserem Projekt, sie nicken, scheinen zu verstehen, keine Betroffenheitssymptomatik. Warm-up mit Monteverdi. Den ersten Bewegungen folge ich noch zögerlich, achte auf Stelas Vorgaben, versuche ihren weitgehend wortlos ausgeführten Bewegungen zu folgen. Die Musik dröhnt übersteuert aus Boxen. Soll ich darum bitten, leiser zu drehen? Beim ersten Mal dabei und gleich alles besser wissen. Ich schweige und lass die Musik in mich laufen.

Acht- und sorgsam nehmen mich die Tänzerinnen in ihre Bewegungen, ihren Ausdruck, ihr Verständnis der Musik, ihre Gefühle auf. Gedrängt, isoliert, zärtlich, aggressiv-abweisend, mit- und gegeneinander.

Die Choreographin heftet mir ein rotes Puppenkleidchen mit einem weißen Bubikrägelchen an. Die Rolle, die mir das Kostüm aufdrängt, behagt mir nicht. Dann schlüpfe ich unbeholfen in die wieder-ein-kleines-Mädchen-sein-Rolle und nehme heftig gestikulierend Abschied von meinen Lieben, die ich zurücklasse. Doch merke ich, als ich mich entferne, dass ich gar nicht weggehen kann, drehe mich unversehens um, fliehe ihnen ängstlich entgegnen, um jedoch kurz vor ihnen niederzustürzen, leblos, wie tot. Sorgsam scharen sich die anderen um mich, betten mich, es ist wie ein kleiner Tod, aber ich kann einfach tot sein, es ist gar nicht schlimm. Verwundert, berührt, fast getröstet bin ich.

Pause. Beredtes Schweigen.

Der Filmkamerad agiert mit der Kamera sanft und ruhig, lenkt nicht ab, stört nicht.

Nur kurz schnall ich mir die rote Clownsnase um, der Rolle überdrüssig. Zu oft war ich früher Clown zu Fasching.

Aber der schwarze Mantel, den ich verkehrt herum trage, mich zugleich einzwängt und an mir herumschlackert, der passt! Er fordert er grobe, wilde Bewegungen, Aggressivität, verlangt Zutritt zum Schmerz. Zwei Tänzerinnen zerren an mir, eine will mir den Mantel entreißen, die andere das transparent-weiße Tuch nicht mit mir teilen. So zerreißt es mich zwischen Weiß und Schwarz, zwischen Leben und Tod. Genau so ist es. Das Barometer Gemüt zeigt Lebensferne und Todesnähe oder Lebensnähe und Todesferne an.

Trotzig taumle ich halb blind ich mit dem Pullover vor mich hin, den mir über den Kopf gezogen habe. Alle starren mich an.

Bin kein Kind von Traurigkeit beim Tanzen, spüre aber tief drinnen eine harte Schale, hermetisch verschlossen, nix da von „jetzt leichter zu knacken“, hab keinen Zugang zu den ihr inne wohnenden Gefühlen. Aber ich ahne: Wenn es knackt, weine ich. Tagelang. Hoffnung macht nur dies: Die Notwendigkeit des Weinens bereits überwunden zu haben, um ruhig dem Nichts entgegen zu treten.

**

Musik dringt durch meine Haut, drängt von da nach außen in Bewegung und Form, zieht mich, führt mich, leitet mich, lässt mich, entäußert mich bis zum Ende von gleichermaßen tiefster Erschöpfung wie Zufriedenheit, vergleichbar dem Gefühl träger, satter, warmer Befriedigung nach Momenten ungezügelter, wilder Lust, purem Sex.

**

Sport; wie wichtig er für mich. Fast hätte ich es vergessen. Wenn ich mich beim Pilates auf die Übungen konzentriere, fließt mein Geist ruhiger und ich kann einmal abschalten, endlich – einmal – abschalten. Ausdiemaus, krebs raus.

Verselein
Ei, da kleid ich mich in ein feines Mäntelein, da flecht ich mir zwei stramme Zöpfelein, da steig ich in mein Stiefelein, will auch recht lieb und artig sein, der Krebs wird schon so schlimm nicht sein, sei nur hübsch freundlich und fein, Genesung wird dein Lohn dann sein.

**

Red doch nicht immer vom Sterben, du verdirbst dir nur den Spaß, sterben müssen wir alle, du bist einfach viel zu krass. Nimms locker, lässig, munter und machs dir nicht zu schwer, schluck die Pillen runter, als obs ein Bonbon wär. Gesunde Menschen mag ich, kranke weniger, ich kann das leider nicht tragen, dein Päckchen ist zu schwer.

Drum mal ich mir ein Mündchen so rot wie süßer Mohn, das lächelt süß und milde, verstört mich auch dein Ton. Das Feinslieb ist geflohen, der Tod schien gar zu grimm, träumt lieber von Italien, wo Zitronenbäume blühn. Dort ist das Leben heiter und ewig scheint die Sonn, nur fort mit Schmerz und Kummer, da hat man nix davon.

**

Märchen

Es war einmal ein kleines Mägdelein, das verlief sich in einem großen Wald. Es lief und lief und geriet so immer tiefer in das tiefe Dickicht hinein, bis dahin, wo kaum eine Menschenseele je gewesen. Vom langen Laufen war es hungrig, so hungrig, dass es glaubte, Hungers sterben zu müssen. Da kam eine alte Frau des Wegs und das Mägdelein sagte: Ich habe solchen Hunger. Da sprach die Frau: Denk nicht ans Essen, dann wirst du satt schon sein. Das Mägdelein dachte nicht ans Essen, aber hungrig war es immer noch. Da kam ein alter Mann daher und das Mägdelein sprach: Ich bin so durstig. Da sprach der Mann: Denk nicht ans Trinken, so wirst du satt schon sein. Das Mägdelein dachte nicht ans Trinken, aber durstig war es immer noch. Und weil es nur ein dünnes Kittelchen trug, fror es ganz erbärmlich, zitterte und klagte zu einem Kaufmann, der gerade des Wegs kam: Mir ist so kalt. Der Kaufmann antwortete: Denk nicht ans Frieren, so wird dir warm schon sein. Das Mädchen dachte nicht ans Frieren, aber kalt war ihm immer noch. Und als der Mond über den Bäumen aufstieg und seine fahle Sichel über den Kronen schwebte, da setzte es sich nieder an einer dicken Wurzel und begann bitterlich zu weinen. Und es weinte und weinte, die Tränen benetzten den Boden des Waldes und aus ihm wuchsen wilde, weiße Blumen, die deckten es zu, und wärmten es und sättigten es mit ihrem würzigen Nektar. Am nächsten Morgen erhob es sich von seinem Lager, gestärkt und erquickt, doch den Weg aus dem Wald suchte es nicht länger. Und da teilte sich das Dickicht und wies ihm den Weg hinaus ganz von allein.

**

Traum

In der Ferne auf einem Berg vor einem hohen Gebirge ein großes Haus, vermutlich ein Hotel. Das hinter dem Hotel befindliche Gebirge beginnt einzustürzen und die Felsen drohen, das Haus zu zerstören. Ich jage, so schnell ich kann, den breiten, von einer Wiese gesäumten Weg zum Hotel hoch, schreie panisch und versuche die Leute in Kenntnis zu setzen über die Gefahr, in der sie sich befinden. In Massen strömen die Menschen aus dem Gebäude, ich treibe sie zur Eile an, bin plötzlich selbst eine dieser Personen und habe mein jüngstes Kind an der Kind. Verzweifelt bettle ich die Frauen und Männer um mich herum um Hilfe an, während rings umher die Vernichtung wütet: Rettet mein Kind, rettet mein Kind, ich habe kein Geld, ich habe nichts, aber nehmt mein Kind mit, rettet mein Kind.

**

Versöhnen
Versöhnt will ich sterben, versöhnt mit den Menschen, den Dingen, mit mir. Die Enttäuschung verwinden über die, die die Krankheit mir entrissen hat, die mit der vitalen Uli alles und mit der kranken Uli wenig oder nichts anfangen können, vielleicht auch einfach den Schmerz nicht aushalten, sich dem Tabu des Todes nicht stellen wollen, weil er an ihr eigenes Inneres rührt und sie mit der Frage konfrontiert: Und wie ist es eigentlich um dein Leben bestellt? Könntest du abtreten, ohne zu hadern?

Den Verlust will ich verwinden, den Verlust meines bisherigen Lebens, aus dem ich herausgefallen bin. Und nichts ist mehr so, wie es einmal war. Nicht die Arbeit, nicht die Familie, nicht einmal die Liebe. Nur meine Katze kommt allabendlich und legt sich auf meinen Schoß, schnurrt: Hey, es ist alles ok.

Ein Leben zu akzeptieren, das man sich selbst nicht ausgesucht hat, widerspricht dem Zeitgeist und Lebensgefühl, in dem wir alles planen, alles zu kontrollieren, alles im Griff zu haben scheinen. Der Situation jetzt kann ich nicht entfliehen. Ich kann mich ihr nur stellen, ihr die Stirn bieten und, wie es zuweilen so halbwegs ermutigend scheint, das Beste daraus machen, meine Zeit nutzen.

Verbittert enden, das ist das Letzte, was ich möchte. Am liebsten möchte ich in die Grube fahren mit einem flotten Spruch auf den Lippen… wenn nur nicht die Kinder wären. Der Gedanke an sie nimmt alle Leichtigkeit vor dem Angesicht des Todes. Abzutreten allein erscheint mir einfach, abzutreten mit Familie ist eine Qual. Sich befreien von der Sorge um die Frage, was aus denen wird, die ich liebe, wenn ich nicht mehr bin, ist der Weg zu einem befreiteren Leben jetzt.

**

Bummel durch die Fußgängerzone in Westerland auf Sylt. Da hängt diese wahnsinnig stylishe, unheimlich lässige Lederjacke auf dem Ständer und lotst die Kunden in den Laden. Genau so eine such ich schon lange. Ich kauf sie mir nicht, wozu, aber ich geh mal in den Laden und stiefle los. Ich frage nach der Jacke, Größe 34 gibt es ja meist nicht, doch gibt es. Ich ziehe sie an. Passt perfekt. Sieht perfekt aus. Nein, ich kauf sie mir nicht. Wozu?. Ich gebe kein Geld mehr für Klamotten für mich aus. Ja, wenn ich arbeiten ginge… Ja, wenn ich wüsste, dass ich nicht in ein paar Monaten pensioniert werde… Ja, wenn ich keine Metastasen hätte, sondern „nur“ einen Tumor… Ja, wenn. Abends logge ich im Netz ein und bestelle mir die Jacke online. Kostet 10 Euro mehr, weil ich den Versand auch noch bezahlen muss. Aber ich bestelle sie in grün, der Lieblingsfarbe meiner Tochter: Wenn ich sterbe, kann sie sie erben.

**

Ich trüb im Trüben so vor mich hin, doch nicht zu trüben, das wär mein Sinn. – Mich wunderts nicht, dass ich so traurig bin.

**

Zwei ihm bekannte Patienten seien von einem Heiler irgendwo im fernen Asien geheilt worden, erzählt der Heilpraktiker, während er die Nadeln für die Akupunktur meines Magens setzt. Informieren wolle er nur, keineswegs unter Druck setzen. Glaube ich an so was? Wenn ich schon nicht an Pilgerorte wie Lourdes o.Ä. glaube, warum sollte ich dann alles auf die Karte Hoffnung setzen, ins Flugzeug steigen und zu einem irgendeinem Typen pilgern? – Aber was, wenn das eine Option ist? Wenn es mein Leben retten kann? Muss ich nicht alles ausschöpfen, was vielleicht geht, was vielleicht möglich ist, was mich vielleicht rettet?

**

Morgens im Bett nimmst du mich in den Arm und sagst leise: Ich hab Angst. Es tut so gut, das zu hören, denn so weiß ich, dass ich mit der meinen nicht alleine bin. Still halten wir uns in Erwartung der anstehenden Kontrolluntersuchungen heute und morgen, dem Strohhälmchen Hoffnung, dass negativ positiv ist.

Und den Satz nehm ich mir mit ins Gepäck, als ich aufbreche nach Kiel, er hält und trägt mich: Ich lass dich nicht allein.

**

Beim CT läuft ein Teil des Kontrastmittels daneben und verklebt mir die Haare. Notdürftig reinige ich meine klebrigen Haare und kehre auf Station zurück, um erstmal meine Haare zu waschen. Oh, Untersuchungs-Shampoo sagt der Krankenpfleger fröhlich.

**

Nach der MRT-Untersuchung gehe ich zur offenen Umkleidekabine zurück. Dort liegt, zusammengekrümmt auf der schmalen Sitzbank wie ein Embryo, ein junges Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt, todmüde, todblass, das ich zuvor im Wartezimmer gesehen habe: schmaler Körper, Mütze auf dem Kopf, todesblass – Krebspatientin. Neben ihr hockt ihre Mutter, hält ihre Hand, blickt die Tochter an, der selbst das Sitzen zu viel Kraft abfordert. Eine lebende Pieta, die ganze Haltung ein einziger Mutterschmerz, schnürt mir die Kehle zu. So viel größer das Leid dieser Frau, die ihr Kind vielleicht verlieren wird, und das Leid des Mädchens, das vielleicht nie Frau sein wird.

UKSH Kiel
Das laute Vogelgezwitscher, Möwengeschrei, Ankündigung der Küsten. Ein sich langsam steigernder Ton, der das Dämmern eines neuen Tages einläutet. Kraftvoll erzählt die Amsel vom kommenden Tag. Das Gefühl von Leichtigkeit und Schwere, schlafen wollen und nicht schlafen können, sich darum nicht scheren, sondern dem neuen Morgen die Ohren hinhalten und das Herz. Die Dinge ordnen wollen, nach Versöhnung streben, nach Ruhe, weg vom Chaos, die Augen zumachen und denken: Es ist gut.

Die innere Angst hat sich in den letzten Tagen wieder erhoben, womöglich ausgelöst durch die mir unerklärliche Gewichtsabnahme. Mit den klapprigen unter-46-Kilo fühl ich mich schwach, frag ich mich, ob da ein Wesen, ein Organismus in mir sitzt und sich meiner Nahrung bemächtigt, laut und zufrieden vor sich hinschmatzt und mich aussaugt, mir das Leben aus den Pulsadern, aus den Adern, den Venen zieht, in seinem Hinterhalt hockend, ein lauerndes Tier, geduckt, angriffsbereit.

Zumindest weiß ich inzwischen, dass die Tage vor den Kontrolluntersuchungen mir enormen inneren Druck bereiten, die sich vor allem dann zeigen, wenn der erlösende negative Bescheid kommt, sich die Spannung löst.

Nun bin ich wieder in meinen eisernen Harnisch gekrochen, mein Eisenpanzer schützt mir Herz und Seele, ich wappne mich für das Schlimmste, tret mit geschärfter Lanze ins Areal und schrei laut: Zeig dich doch, Feigling, dass ich dich vernichten kann! Aber das hat der Krebs gar nicht nötig.

**

Das Leben als ein System von Hulahoop-Reifen. Ich wähle einen der Reifen, die auf dem Boden vor mir liegen, so einen von diesen flexiblen, die es gibt in gelb- und pink gestreift, springe hinein und damit in eine andere Lebensmöglichkeit. Je nachdem in welchen Reifen ich springe, tut sich mir ein anderes Leben auf. Wähle: ein Leben an einem anderen Ort, mit einem anderen Beruf, anderen Beziehungen, einem anderen Partner, mit oder ohne Kinder an der Hand, anders geformten charakterlichen Dispositionen anderen anders gewichteten und entwickelten Vorlieben, Hobbys, Zu- und Abneigungen. Je nach Sprung gehen Türen auf, andere zu. Leben als Potential, nicht als Fakt, geschmiedet vom Tod. Der Sensenmann schreibt plötzlich die Regeln, führt Regie und sagt mir streng: Na, das lässt du aber bitteschön sein, der Zug ist abgefahren, deine Strecke führt schnurstracks gen Horizont – und von da aus, tsja, das weiß ich nicht.

**

Gespräch mit S.. Ich erzähle ihm, dass meine innere Stimme sich wieder gemeldet hat. Was sagt sie denn? – Das ist mein letzter Sommer.

Und immer Hölderlins Verse bei mir: Nur einen Sommer Gönnt, ihr Gewaltigen! / Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, / dass williger mein Herz / vom süssen Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

**

Und da ist der Freund, der sagt: Ich hab Angst, dass das nur ein letztes Aufbäumen von dir ist. Diese Ahnungsangst begleitet auch mich, das letzte Aufglänzen vor dem Abstieg in die Dunkelwelt.

**

Befund negativ. Ich spür gar nix.

**

Anruf aus der Hautklinik. Die Werte des Herzechos sind wie bei der letzten ambulanten Kontrolle vor einem Monat schlecht und liegen unter der erforderlichen Pumpleistung von 55%. Muss die Medikation zwei Wochen pausieren. Angst. Riesengroße Angst. Was wird, wenn ich die Therapie absetzen muss?

**

Rasender Schmerz in der Schulter über der Narbe, der mich wie ein Schwerthieb fällt. Schreiend fall ich auf die Couch, schnappe nach Luft, bis der Druck der Rasierklinge in mir nachlässt und ich durchatme.

Pfingsten
Morgens um halb fünf steh ich auf, setz mich an den Schreibtisch und klebe Venedig, Verona, „Aida“ und Kräuterwiesen auf dem Monte Baldo ins Fotoalbum ein. Der Drang fertig zu werden.

Seelenfrieden in mir, eine Ruhe, so still, friedfertig, still, gelassen, heiter. Die Versöhnung mit den Dingen, die ich gesucht habe, leuchtet in mir. Hab den Zug Station „Carpe diem“ genommen und nehme darin volle Fahrt auf. Das Warten auf die nächste Herzecho-Untersuchung lass ich auf dem Abstellgleis.

Gemeinsam werkeln wir in Haus und Garten. Ich zupf den Klee und merk: Entspannt! Dem ins Kraut geschossenen Kerbel mach ich gnadenlos den Garaus. Ich hege und pflege die Beete mit geerdeter Freude und Zufriedenheit.

**

Nesttrieb
So wars auch gegen Ende der Schwangerschaft. Ich suche Bilder heraus, die aufgehängt werden sollen, überlege, in welchen Farben ich Küche, Schlaf- und Pilateszimmer streichen und mit Lampen gestalten will. Die Dinge ordnen wollen, sortiert zurücklassen. Die innere Stimme dirigiert das Finale.

**

Treffen mit dem Filmkameraden und seiner Familie am Strand. Wie ein außerirdisches Wesen schleift er die Kamera am Strand herum, filmt und dokumentiert. Paradiesischer Tag, entspanntes Treiben, spielende Kinder am Wasser, laue Brise, blauer Himmel, feines Sandgeriesel auf sonnenmilchklebriger Haut. An solchen Tagen ist Nordfriesland doch einmal mein Nordfriesland.

Den Sommer einladen mit dem ersten Bad im Meer zu Pfingsten oder Christi Himmelfahrt hat bei uns Tradition. Frischefrische 17 Grad. Im Wasser plötzlich ein scharf einschießender Schmerz im Hals. Ich hab einen Hexenschuss, schrei ich, doch da lässt der Schmerz schon nach.

Abirede für meine Klasse (Ausschnitt)
Dass euer Weg nicht immer schnurstracks und geradeaus führen wird, ist eine Binsenweisheit, die eigentlich der Erwähnung gar nicht wert ist. Ich gehe davon aus, dass ihr alle, wenn auch möglicherweise mehr oder minder, bereits schmerzhaft erfahren habt, dass das Leben sich nicht immer von der sonnigen, strahlenden Seite zeigt, auch wenn unsere Spaßgesellschaft und die Werbung das gar zu gern suggerieren, und die dunkle Seite der Welt, Leid, Schmerz, Kummer, Verzweiflung, Angst ausgeblendet und an den Rand gedrängt werden. Ihr seid mit mir auf meinem dunklen Weg einer tödlichen Krankheit ein Stück weit offen und mutig mitgegangen, ihr habt mich getröstet und gestärkt mit eurer jugendlichen Lebenslust, mit eurem Lachen, euren Ideen, eurer Kreativität, euren so verschiedenen, einzigartigen Charakteren. Ihr habt das besser hingekriegt als mancher Erwachsene! Eure Unbeschwertheit und Selbstverständlichkeit war für mich ein Lebensexilier! Dafür möchte ich euch jetzt allen von Herzen danken! Wie schön, hier mit euch auf ne Wurst zusammenzusein! Und darauf trink ich einen. Leute!

Ich möchte ganz offen zu euch sein, weil unser Verhältnis in den letzten drei Jahren, zumindest empfinde ich es so, von Offenheit und Vertrauen geprägt war: Wenn man als Mensch auf der Mitte des Lebens das Stoppschild aufgestellt bekommt und die eigene Existenz, die man letztendlich als unendlich empfindet – nach dem Motto, ach, ich hab ja noch so viel Zeit – zur radikal endlich bemessenen wird, Jahre zu Monaten und Tagen schrumpfen, dann hallt die barocke Emblematik des “carpe diem” nicht mehr als Leerformel, sondern gellt als kategorischer Imperativ: Nutze den Tag!

Ihr, die ihr an einer Schwelle steht, aufbrecht in ein Leben als Erwachsene, in dem ihr entscheidet und bestimmt, wohin ihr euch wendet oder auch nicht, was ihr tut oder unterlasst, was ihr verlautbart oder verschweigt, packt diese Freiheit, die ihr jetzt habt, auch gegen Widerstände, auch gegen Ängstlichkeit, gegen Zweifel von Erwachsenen, Älteren, vermeintlich Weiseren, Wissenderen. Die besten Erfahrungen macht man immer noch selbst. Denn besser ist es auf unbegangenen Wegen zu stolpern als auf ausgetretenden Pfaden auf der Stelle zu treten!

Ich wäre nicht Deutschlehrerin, gäbe ich euch nicht ein Gedicht meines Lieblingsdichters Rilke mit auf den Weg, das Mut macht, sich vom Leben beschenken zu lassen:

Du musst das Leben nicht verstehen

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

**

Juni 14, Schleswig, Domschule
Fahre zu Filmkameraden. Wir weisen drei Schüler ins Projekt ein, die beim Dreh mitarbeiten werden, hören aufmerksam zu, betroffene Gesichter, als ich meine Erkrankung kurz schildere, aber sehr professionelle Reaktion. Lächeln, als sie hören, dass ich Theater unterrichte.

Suche mir auf einem Stuhl einen bequeme Position und beginne meine Aufzeichnungen für die Tonaufnahme einzusprechen, tauche dabei in meinen Text ein, der mir selbst fremd geworden ist und dem ich jetzt erneut gegenüberstehe. Merke, dass da zu sagen habe. Es wächst der Gedanke, die Texte publik zu machen. Weg von der Scheu, der Scham, hin zur radikalen Offenheit.

Nachdem die Schüler aufgebrochen sind, beschließe ich mehr oder minder spontan in Kiel wegen des Befundes anzurufen. Eigentlich wollte ich das erst am nächsten Tag machen, weil ich abends mit den Nachbarinnen essen gehen will und keine Lust hab, mir womöglich den Tag zu versauen. Möchte aber jetzt, dass André genau diese Situation filmt und dokumentiert, die so typisch für meine Erkrankung ist, die explosive Anspannung vor dem Anruf, das Zittern beim Wählen, die betonte Ruhe und Höflichkeit: Ich möchte mich nach meinem Befund erkundigen… Kannst du das auffangen, Filmkamerad? Ja, kann er, ja, kann ich. Gut. Griff zum Smartphone, ich platzier mich auf den Stuhl, Kamera läuft. UKSH: Von der Pforte zum Studienteam: Dr. M.s Stimme macht sogleich alles klar: Wollen Sie das telefonisch oder möchten Sie lieber vorbeikommen? Ich schaue am Objektiv vorbei in das Gesicht des Filmgefährten, Worte sind überflüssig: positiver Befund. Sie haben da leider eine kleine Stelle im Gehirn. Ach, dann muss ich wohl doch kommen, mehr ein Seufzen als ein Wort. Termin für morgen.

Der Filmkamerad nimmt mich in den Arm: Ich kann das noch gar nicht glauben. Nein, ich auch nicht. Danke für die Freundschaft, die wir gewonnen haben. Spazieren gehen? Ja, gut.

Ich fühl so wenig, meint er. Was wäre dir denn lieber, weinen oder schreien? Ja. Dafür gehst du mit mir Eis essen. Für mich genau richtig jetzt. Schoko-Kirsch, eine Kugel, scheiß auf die Fructose. Aber nur in der Eisdiele, die das beste Eis hat, auch wenn der Weg am weitesten ist. Das ist ja wohl das Mindeste. – Und, Filmkamerad, wenn du das hier mal liest, vergiss nicht, im Café deines Freundes endlich einen Cappuccino zu trinken.

Nach anfänglicher Ratlosigkeit, was mach ich jetzt, wie bring ichs Dietmar bei, weiß ich, dass ich nach Flensburg fahren und mit Dietmar dort sprechen will. Ihn zuhause zu treffen ist unmöglich, die Kinder sind da, erst einmal müssen wir in Ruhe reden, ehe wir die Kinder wieder mit der neuen Stufe des Wahnsinns konfrontieren müssen.

Fahre nach Flensburg und beschließe dann dort, doch nach Hause zu fahren. Fühle mich ruhig, gewappnet und gefasst. Hänge dort als erstes Wäsche auf und ab. Haushalt ist immer gut in solchen Situationen. Elsa steht gerade in der Küche und kocht Nudeln mit Tomatensoße für sich, Johanna und Nathan. Ich bin sehr stolz auf sie. Setze mich zu den Kindern, während sie essen und wir führen ein entspanntes Gespräch. Ich staune über mich, ich krieg das hin. Katastrophennachrichtroutine. Programm Überleben läuft.

**

Abends Essen mit den Nachbarinnen in Husum, halte im Auto A.s Hand, wir lächeln uns an. Gemütliche, vertraut-unverkrampfte Plaudereien im Restaurant, an Gesprächsstoff mangelt es uns nie, Haustiere und Kinder sind immer eine Schwärmerei wert. Nach dem Essen sag ich: Mädels, ich muss euch was sagen. Sofort Alarm im Blick. Ich brauche Unterstützung. Jetzt. Und mein Mann später. Ihr Nicken versichert mir: Ja, wir sind da. Wir werden da sein. Die Hiobsbotschaft schafft es nicht, den Abend zu zerstören. Das Netzwerk hält.

Bin um Mitternacht zuhause und krieche ins Ehebett. Liebes, wir müssen morgen nach Kiel. Der Klageruf schneidet mich mitten durch. Ich halte den Liebsten, sein Kopf an meiner Brust, streichle sein Haar, wir reden und reden, weine, so viel du willst, Tränen fließen lassen, bis auch die meinen fließen. Ich hab mich immer so gefreut, Oma und Opa zu sein, unser alter Traum, den Enkeln Oma und Opa sein, ihnen Zeit zu schenken, damit Zeit unseren Kindern schenken, die wir als junge Eltern immer so entbehrt haben. Zerstörter Traum. Einmal im Jahr ein Urlaub mit den Kindern, mach das, mein Wunsch an dich.

**

Schlafen wird abgeschafft, zu Ende bringen, was ich zu Ende bringen will. Leben im Zeitraffer, solange der Kopf durchhält. Lauschen auf Symptome. Gelegentlich zieht mir der Schwindel durch den Kopf. Wusch.

Lese Nathans Projekt über Zwölftonmusik Korrektur, mit dem Stift muss ich die Zeilen verfolgen. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Zementsackschwerer Druck im Kopf, hab das Gefühl, er fällt gleich zur Seite weg

Müde vom Weinen, Eufrasia, Augentrost, in die Lider geträufelt, linderndes Wort.

**

Regen, strömend, warm, von fern Donnergrollen, zuckend grellt ein Blitz. Trübsalwetter wie am Tag der Diagnose im März 2013. Der Himmel grau-trüb verhangen, trauernde Wolken. Aber die Amsel, sie flötet dennoch.

**

Frühstück für Dietmar und Kinder gemacht, habe ich seit der Diagnose aufgegeben und hat der Mann übernommen, damit ich immer ausschlafen kann. Freude an den einfachen Dingen. Liebe es, dass er morgens, ehe er zur Arbeit aufbricht, immer ins Schlafzimmer hochkommt und mich zum Abschied küsst.

**

Mein Herz stolpert vor sich hin, war gestern auch schon so. Sehnsucht nach Herzstillstand, wär die Luxuslösung, dem metastasierten Krebs klar vorzuziehen. Quadratisch, praktisch, gut.

**

Mein Kopf eine Wassermelone, unglaublicher Druck, ich hab das Gefühl, mir kippt der Kopf zur Seite und dann das Bewusstsein weg. Klar, da stimmt was nicht, das kommt nicht von der Wirbelsäule, das Monster rührt im Suppentopf.

Die bisherigen Symptome: Kommen sie vom Krebs, vom Kortison? Metallischer Geschmack seit vierzehn Tagen, teils das Gefühl, gar nichts zu schmecken, der dauernde Kloß im Hals, Haarausfall, mir fällt immer mal wieder das linke Ohr zu, die Augen sind deutlich schlechter, die zuckenden Schmerzblitze im ganzen Körper, wie kurze elektrische Schläge, esse, und merke nichts davon, kein Hunger, kein Sättigungsgefühl.

**

Vierbund
Beim Sport kommt Nachbarin eins strahlend auf mich zu und drückt mich. Nachbarin zwei hat mir schon Bescheid gegeben von der Besprechung des Befunds, ich freu mich so!

Als ich mittags aus der Stadt komme, steht Nachbarin drei vor der Tür.

Nicht danke sagen, sonst wirkt es nicht. Aus einem Papier wickelt sie vorsichtig ein vierblättriges Kleeblatt. Dann komm ich in die Küche. Da liegt ein Kilo geschälter Spargel. Geschenk von Nachbarin zwei, Mama. – Das Nachbarinnennetzwerk funktioniert und signalisiert: Wir sind da für euch!

**

Wieder schon vor vier wach, halb sechs aufgestanden. 400 Gramm mehr auf der Waage. Gut.

In mir verbrennt die Zeit, helle Lohe, Hölderlins Verse immer ganz nah bei mir. Kaufe mir bei der Freundin, der begnadeten Goldschmiedin, einen Ring, mein carpe diem, mein Alarmtag „Hirnmetastase“, braune Muschel im Silber geborgen. Will meinen Mann an beiden Händen tragen, ein Bollwerk an den Fingern, Mahnung und Kraftquelle zugleich.

**

Gehe schmerzmäßig auf dem Zahnfleisch, der Hals-Nacken-Bereich komplett dicht, Gefühl jederzeit umkippen zu können. Fahre nach Hause mit nur einer Sehnsucht: hinlegen.

Voltaren eingeworfen, anderthalb Stunden geschlafen. Danach leichte Besserung. Gestalte eine Hochzeitskerze, die Feinarbeit mit dem Kerzenwachs fährt mich innerlich runter.

Die große Tochter übernimmt das Küchenzepter und backt Pizza Fühle mich nicht imstande, zur geplanten Tanzparty zu gehen, beschließe aber: Komm, wir gehen und gucken, was geht. Alternative wäre auf der Couch liegen und sich den ganzen Abend darüber ärgern, nicht zum Tanzen gegangen zu sein. Auch schlecht fürs Gemüt. Blühe beim Tanzen auf, halte bis zum Ende durch, dann schlechte Nacht, starke Schmerzen, drehen mich durch die Mühle. Sorge: Kommt der Kloß im Hals von Blockaden der Wirbelsäule oder kommen die Blockaden der Wirbelsäule vom Kloß im Hals? Verdammt, was ist da innen drin los? Da ist doch was.

**

Traumhafter, mediterraner Morgen. Kein Wind, Frühstück auf der Terrasse. Wieder Voltaren eingeworfen gegen die brutalen Schmerzen im Halswirbelsäulenbereich, wirkt kaum, genieße trotzdem die flirrenden Stunden. Ziehe mit der Schere ums Haus, zupfe Klee, schneide alte Blüten ab, fühle mich komplett geerdet, Freude an den einfachen Dingen, am Wachsen.

**

Aufgestanden, Schmerz wühlt im Halsbereich, an Schlaf nicht zu denken. Siedle spätnachts ins Wohnzimmer um, der Fernseher jubiliert übers Müllers Tore im ersten Spiel der deutschen Mannschaft. WM-Fieber. Die Katze streicht um mich rum, lässt sich in den Arm nehmen zum. nächtlichen Intermezzo. Abgründe deutscher Privatfernsehverarschung bei RTL, über CSI New York eingeschlafen, Heizdecke brennt mir eine Brandblase auf die Schulter, vom Schmerz erwacht. Erwache gerädert, habe aber wenigstens noch drei Stunden geschlafen.

**

UKSH Kiel
Herzecho-Kontrolle. Von der Untersuchung hängt ab, wo die Medikation, die ich seit vierzehn Tagen wegen der schlechten Herzwerte pausieren muss, wieder aufgenommen werden kann.

Hocke im fensterlosen Flur im Untergeschoss der Inneren und nadle mich an meinem Strickzeug ab. Gut aussehender Sportlertyp vertreibt die offenbare Angst mit Flirten. Jung, frage mich, wozu hockt der da? Oh, sind das Socken für mich? Wenn Sie gern welche mit Löchern haben… Kleine Unterhaltung über anstehende Untersuchung, Zukunftspläne: Auswandern nach Florida. – Und wozu sind die beiden Zehen verpflastert? ganz schön neugierig… Damit man ins Gespräch kommt, natürlich! Echt? –

Herzeleid löst Zunge. Älterer Mann kommt dazu und meint charmant: Da setz ich mich doch neben die junge Frau, das sieht gleich besser aus. Na, dann machen Sie mal. Freundliche Worte tun uns allen gut. Wir hocken da wie Hühner auf der Stange mit dem, was wir so auf dem Herzen haben. Es ist bedeutend netter miteinander zu plaudern als sich wie sonst stumpfsinnig anzuschweigen, aneinander vorbeizuschauen, jeder sein eigener Samurai im Geiste.

Die Untersuchung verläuft erfreulich, die Herzwerte scheinen sich normalisiert zu haben. Fühl mich sofort beschwingt trotz meiner bleiernen Müdigkeit. Jandls Worte: Einer kommt, einer geht. Nächster dran. Boxenstopp beim Bäcker: Espresso zur Feier des Tages.

**

Erreiche endlich die Ärztin, um Auskunft über die Herzwerte zu bekommen. Vergebliche Zuversicht. Die Werte haben sich leicht verbessert, liegen aber noch immer unter dem Normwert, ich muss das Medikament weiter pausieren.

Mir bleibt die Luft weg. Erstmal laufen! Augen einfach geradeaus, nicht anhalten, bis zur Post, Päckchen aufgeben, freundlich lächeln, bezahlen und zurück. Das Steinzeit-Muster funktioniert, fühle mich danach etwas leichter. Die beiden Möglichkeiten bestehen noch immer in Angriff oder Flucht.

**

Autobahn Richtung Süden
Zu fünft unterwegs. Wir passieren ein pyramidenartig anmutendes Gebäude und fragen uns, welche Firma sich wohl so einen Sitz hinstellt. Vieeleicht ein Bestattungsunternehmen, witzelt die große Tochter. Ich springe auf en Zug auf. Wow, in einer Pyramide würde ich mich auch gern beerdigen lassen, da denke ich nochmal drüber nach. – Papa, du kannst doch dafür bestimmt eine Baugenehmigung einholen… Wir lachen über die Vorstellung, dass auf unserem Dorffriedhof eine Pyramide aus dem Boden wächst. Unbeschwerte Leichtigkeit mit den Kindern. Ich erkläre ihnen, dass ich ohnehin keinen Grabstein will, sondern nur eine Plakette im Ruheforst an mich erinnern wird. Darüber reden ist möglich: Weil der Tod so weit weg oder so nah ist?

**

Hochzeit
Mein Patenkind heiratet. Festlicher Einzug der strahlenden Braut am Arm des gerührten Vaters, meines Bruders. Seufzer gurgeln in meiner Kehle hoch, Tränen fließen von allein. Versuch, sich zu beherrschen, unmöglich. Zurückgebeamt in meine Hochzeit branden die Erinnerungen hoch, das himmelweite Glück jenes Tags, das Versprechen. “In Gesundheit, in Krankheit, in guten und in schlechten Tagen”, Worte aus der Fiktion geholt und ins Leben geschleudert, in die tagtägliche Bewährung.

Der Vater des Bräutigams singt dem Paar ein Liebeslied von Udo Lindenberg und erklärt zugleich seiner Frau erneut seine Liebe nach 33 Jahren Liebe. Strahlende Blicke. Freudiges Verwundern. Mich fletscht nicht mehr die nackte Verzweiflung an, weil meiner Ehe Silberhochzeit und mehr geraubt sind. Ich freu mich mit dem Paar und lasse die Dinge so für mich, wie sie sind. Aber nachts sage ich: Ich möcht bei dir bleiben. – Schlichte Antwort. Ja, das wär schön.

**

Zu Mozarts „Zauberflöte“ zum Herzecho in die Uniklinik. Der untersuchende Arzt ist mit dem Ergebnis zufrieden. Die Werte liegen im normalen Bereich. Ich wiege mich in Sicherheit, alles in Ordnung, die Therapie kann weitergehen. Verkehrt gerechnet. Die Therapie muss ausgesetzt bleiben, weil meine Werte zuvor im Sportlerbereich bei ca. 80% Pumpfunktion lagen. Das Protokoll der Studie erlaubt keinen Leistungsabfall über 10% des Grundwerts. Um ehrlich zu sein: Ich sterbe lieber an einem Herzstillstand als an einem metastasierten Melanom. Die Ärztin veranschlagt eine vorgezogene Kontrolle mit CT und MRT vor dem geplanten Sommerurlaub in die Normandie statt des regulären Termins Ende August. Es soll kontrolliert werden, wie der Körper reagiert, wenn das Medikament abgesetzt ist.

**

Aufbruch in den Urlaub. Abends zuvor Wohnmobil gepackt. Fast scheitert unsere Reise. Dietmar holt sich eine Platzwunde als er die Räder auflädt. Ganz knapp neben dem rechten Auge.

**

Rijksmuseum, Amsterdam
In der Asiatischen Sammlung zieht der tanzende Gott Shiva, der König des Tanzes, alle Blicke auf sich, zieht mich magisch an.kraftvoll und elegant zugleich bietet seine Arm- und Handhaltung den Schwachen Schutz.

**

Radeln durch die Stadt in die wachsende Nacht hinein. Nachts um halb zwölf kommen wir am Campingplatz an, erschöpft. Wunderbarer Tag. Bin ich krank? Ich merke nichts davon, die 40 km bin ich locker geradelt.

Anne Frank Haus
Im Anne Frank Haus rückt mir die Vergangenheit ganz nah. Annes Schicksal ist auch Mirjam Cohens Schicksal, einst Schülerin Mädchen unserer Schule, ermordet in Auschwitz. Auch sie erlitt als die systematische Erfassung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in Amsterdam, kulminierend in der Deportation in die Vernichtungslager.

Wir radeln in die Plantage Parklaan, die parallel zum Wertheimpark läuft, in dem ein kleines Denkmal an den Holocaust gemahnt. Ich blicke an den mehrstöckigen Häusern empor, versuche mir vorzustellen, wie Mirjams einst hier langlief. Wie lange konnte sie noch den Weg durch den Park nehmen, bis ihr selbst Parkbänke verboten waren?

Ums Eck der Hortus Botanicus und die portugiesische Synagoge.

Benjamin Cohen wählte als Rabbiner vermutlich nicht den Weg ins Versteck, aber ich weiß es nicht.

Otto Frank fragte seine langjährige Mitarbeiterin Miep Gies, ob sie ihn und seine Familie im Versteck versorgen würde. Welche Frage, welche Zumutung. Einerseits begibt er sich in die Hand seiner Mitarbeiterin, indem er seine Versteckpläne offenbart, andererseits mutet er ihr zu, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um seine Familie zu retten.

**

Bin um 5 Uhr wach, höre, wie draußen das Kaninchen Gras zupft, friedlicher Morgen, sehe den Mädchen beim Schlafen zu, friedliche Gesichter, ferngelandet.

**

Kochen mit Nachtisch, Mascarponecreme mit Erdbeeren und Krümelkeks – ich kann das wieder essen, fantastisch.

Meine Überlegung, ruf ich heute an und frag nach dem Befund, hat sich für heute erledigt. Gut so, der Tag ist schonmal nicht versaut.

Amiens
Frankreichs größte Kathedrale. Überwältigt von ihrer lichten Schönheit, die aufgegliederten Säulen streben himmelwärts. Eindrucksvolles Jüngstes Gericht am Hauptportal. Die Sünder wandern direkt in das riesige, weit aufgerissene, zahnbewehrte Maul eines Fabelwesens, die guten Seelen werden von Engel sanft Richtung Himmel gewiesen. Hoffentlich hab ich Glück!

**

Musée Monet, Giverny
Spaziergang zum nahen Restaurant: Rosé und Camembert, Edith Piaf schluchzt im HIntergrund von Liebe und immer wieder Liebe.

**

Fécamp
Zünde in der Kirche eine Kerze an, kann ja nicht schaden, auch wenns kaum nützen wird. Das Licht erhellt trotzdem das Herz.

**

Was für ein Geschenk, im Urlaub zu sein. MIr gehts super.

***

SMS von der Tochter zuhause. Ruf rasch an. Kaninchen Negrito ist tot, totgebissen vermutlich von einem Marder. Die Große weint, weiß nicht, was sie tun soll, der Anblick macht ihr zu schaffen. Unsere Kleine bemerkt das Telefonat und versteckt sich unter der Bettdecke. Ich lege mich zu ihr und nehme sie in den Arm. Beklemmender Gedanke: Wie wird das sein wird, wenn ich tot bin?

**

Vergeblich in Kiel angerufen, noch einen Tag warten.

**

Weiterfahrt entlang der Küste durch Deauville, in Villers-sur-Mer am Strand in Kiel angerufen. Absurde Situation. Inmitten lustigen Strandtreibens einmal russisches Lebensroulette. Dr. K. am Telefon: Punkt im Gehirn jetzt als suspekt eingestuft, 2,5 mm, also eine Metastase. Zurück im Super-Gau. Bin völlig gefasst am Telefon. Ich soll in Ruhe überlegen, ob ich eine Bestrahlung möchte. Sie macht Termin mit dem behandelnden Arzt. OP kommt nicht in Frage, da die Stelle zu klein ist. Kehre zu den Kindern zurück, lasse mir nichts anmerken. Der Mann merkt sofort: Schlechte Nachrichten. Sage es ihm, als wir in Colleville-Montgomery am Wohnmobil-Stellplatz ankommen und die Kinder unterwegs sind. Sehr, sehr traurig. Der Alptraum hat uns wieder. Wo geht Papa denn hin?, fragt das Kind, wie immer gleich Verdacht witternd. Wortfindungsreiche Ausflucht, da bin ich inzwischen gut drin, meine Ahlerich-Tarnkappe verbirgt meine Seele.

Scheinbare Normalität. Brate Crepes mit Schinken und Käse, trinke ein Glas Rosé – jetzt erst recht! Wir radeln zu zweit zum Strand, Ruhe schwebt über der weiten Landschaft, der Wind sanft. Ablaufendes Wasser am breiten Sandstrand, das Wasser hat breite Furchen ins Watt gezogen. Möwen trippeln geschäftig herum oder hocken gelassen auf dem Sand, ihre Körper sich im Waser

spiegelnd. Goldene Abendstimmung. Eine Schnecke kämpft sich mit ihrem Haus Richtung Meer, eine kleine Schneise hinter sich her ziehend, rund um ihren Körper eine kleine Bugwelle, die Fühler vorsichtig tastend.

Denkmal für Montgomery und seine schottischen Truppen, die hier gelandet sind. Bewegendes Terrain, Soldaten liefen ins offene Mündungsfeuer, Landung in den sicheren Tod – wie schafft man das? Viele Häuser mit Fähnchen der Alliierten, Strand beflaggt, Halbmast, ewiges Gedenken für Tausende Opfer. Sturz ins Meer für die Freiheit.

Wir umarmen uns, reden, über das, was ist und kommen mag, versuchen etwas Klarblick zu gewinnen. Bin sehr ruhig, ich habe gewusst, dass es so kommt. Die Nachricht reißt mich nicht mehr unmittelbar in den Abgrund. Fühle sehr intensiv, dass wir Gast auf Erden sind, barocke Verse sehr nah. Tief innen sehr traurig, dass ich gehen muss, aber nicht so verzweifelt-wütend wie noch vor einem Jahr. Der Wahnsinn kleidet sich schon ins Alltagsgewand. Was kommt, ich will es jetzt nicht wissen. Jetzt mache ich Urlaub und sauge jeden Tag in mich auf, jeder Tag zählt.

Auf dem Rückweg kommen wir an einem britischen Soldatenfriedhof vorbei, 1000 weiße Kreuze gegen die Sinnlosigkeit des Kriegs. Von fern wehen Töne eines Parforcehorns herüber, Eichendorffsche Fernwehluft – ach, wer da könnte in der stillen Sommernacht… Mit dem letzten Tageslicht zurück am Wohnmobil-Stellplatz in Colleville-Montgomery.

**

Anruf bei der Freundin zum 50. Würde ich auch gern werden, schießt es mir durch den Kopf.

**

Wir essen die noblen Törtchen, die wir in Honfleur gekauft haben. Feinster Schokoladen- und Himbeergeschmack. Jeder Wunsch wird jetzt erfüllt, Freifahrtschein für alles, was lockt.

Planen die nächsten Tage, bin traurig, zugleich ruhig. Diesen Urlaub lasse ich mir nicht verderben, von nichts, nicht einmal von diesem Monstrum in mir.

**

Colleville-Montgomery
Alle schlummern noch. Von draußen dringen die Geräusche des frühen Morgens. Autos hetzen zur Arbeit, ein Hahn verrichtet sein morgendliches Ritual, dem Tag eins zu krähen. Eine Kirchturmuhr schlägt, Glockenklang gemahnt zur Kirche. Vögel zwitschern anarchistisch munter dazwischen, ihnen ist das Fegefeuer herzlich egal.

**

Zwischenstopp in der Confiserie, an deren Schaufenster vorbeizugehen unmöglich ist. Apfeltaschen und Zitronentörtchen auf dem Weg zum Museum.

**

Schlafe sehr schlecht. Erwache morgens, Wir nehmen uns fest in die Arme, wir weinen, aber hemmungslos geht wegen der Kinder nicht. Das Wohnmobil erlaubt keine emotionale Freizügigkeit. Hätte ich lieber noch nicht anrufen sollen? Die phasenweise unbeschwerte Glückseligkeit der ersten Urlaubstage ist vorbei, jetzt muss sie eher errungen werden.

Eher trübseliger Aufbruch. Weiterfahrt nach Colleville-sur-Mer zum Amerikanischen Soldatenfriedhof, wo fast 10.000 Soldaten bestattet sind. Scheinbar endlose Reihen mit weißen Kreuzen, eingebettet in einen schön angelegten Park, der Ruhe und Würde ausstrahlt. In den endlosen Gräberreihen das einzelne Schicksal, der Mensch, zerstörte Lebensentwürfe, Hoffnungen, Pläne.

**

Picknick an Omaha-Beach. Die Sonne sieht sich meinen neuen Badeanzug an, kommt hervor, als ich ins Wasser will. Endlich Baden im Atlantik, längst überfällig. Herrliches Gefühl vom Wasser getragen zu sein, fühle mich herrlich entspannt, die vom Nacken ausgehenden Kopfschmerzen haben nachgelassen. Ab und zu geht mir ein leichter Schwindel durch den Kopf. Real der Einbildung? Pathologisch? Was tut sich in meinem Hirn? Baut sich das Ungetüm schon wieder ein Nest, verdrängt alles um sich herum?

**

Ich trinke Pommereau und Kyr normand zum Aperitif. Ab jetzt wird gesoffen, was der Magen aushält!

**

Point de Barfleur, Leuchtturm
Weiterfahrt zur Landspitze Point de Barfleur zum zweitgrößten Leuchtturm Frankreichs. Muschelsuche in goldenem Abendlicht.

Wellenrauschen, die Flut kehrt heim. Der Leuchtturm dreht seine Lichtkreise. Zauberhafter Platz für die Nacht, leider geht heute der Kühlschrank nicht… Irre, mit welchen Profanitäten wir uns trotz des Wahnsinns, in dem wir uns befinden, herumschlagen. Die stille, gleichgültige Schönheit der Natur tröstet. Das Meer schlägt unbeirrt seine Wellen gen die Felsen, der Mond leuchtet still über uns, der kreisende Lichtpfel des Leuchtturms hält Wacht. Geborgenes Gefühl zur guten Nacht.

**

Surtainville
Ich lasse mich vom salzigen Wasser und den Wellen tragen, fühle mich unbeschwert und frei. Mittagsschläfchen in der Mittagssonne. Die Mädchen erlauben es sich, wieder Kind zu sein und graben eine Festung in den Sand am Rand eine Priels.

Rohmilch-Camembert und Baguette satt am Nachmittag, kulinarischer Genuss.

Nach dem Abendessen Spaziergang am Strand in Richtung der steilen Schieferfelsen, die sich drängelnd übereinander schieben. Schnecken toben sich künstlerisch aus, malen mit ihren breiten Körpern labyrinthische Ornamente in den von feinem Sand bedeckten Bassins, die bei ablaufendem Wasser entstehen.

Durch den wolkenverhangenen Himmel bricht sanftes Licht, näht goldene Zierbänder auf die Wellen. Einige Angler in hoffnungsvoller Beutestimmung.

Der Gedanke lässt mich nicht los: Mein letzter Sommerurlaub?

**

Gehe ich nach den Sommerferien wieder arbeiten? Eigentlich möchte ich nur an Film und Buch arbeiten. Und im Herbst ins Warme, definitiv! Beängstigende Vorstellung, dass da etwas wächst in meinem Gehirn. Die Angst ist überwältigend, nicht zu kontrollieren, schreit anders als beim Gedanken an Metastasen in der Leber.

**

Geburtstagslichter und Geburtstagskuchen im Wohnmobil morgens um 6 Uhr. Fröhliches Geburtstagslied. Ja, ich kann mich darüber freuen. Abends Crepes, nachgespült mit Pommeau, Calvadoslikör und Cidre, selten so viel Alkohol getrunken wie in diesen Tagen.

**

Blois
In kultureller Hinsicht ist es das pure Vergnügen in Frankreich schwerbehindert zu sein. Mit meinen 90% bekomme ich freien Eintritt, und eine Begleitperson, die auf mich aufpasst, ebenfalls. Praktisch. Das gesparte Geld setzen wir sofort in Kaffee und Kuchen um.

**

Definition von Krebs von der Freundin der Tochter, 13:
Es gibt guten und bösen Krebs. Krebs ist wie ne Ampel: Beim bösen Krebs ist die Ampel auf rot und man muss stehenbleiben. Beim guten Krebs ist die Ampel auf grün und der Weg ist frei.

**

Völlig angespannt fahren wir zum Gesprächstermin mit Prof. D., Facharzt für Strahlentherapie am UKSH. Der Campus ist mittlerweile vertrautes Terrain. Fremdenführerin Ulrike führt ihren Mann souverän über das Gelände: Hier ist das Klo, hier der Parkscheinautomat, zur Hautklinik geht’s da längs, Zur Inneren nach rechts, dort ist die Cafeteria, die Bäckerei ist nicht besonders gut, wie meist bei den Kettenbetrieben – und seit Frankreich und seinen Baguettes und Brioches sind wir ohnehin für alle deutschen Bäcker verloren – und beim Eisstand von Giovanni`s lässt es sich in einem der Strandkörbe mit Eis, Espresso und einem Buch aushalten.

Das Gebäude für Strahlentherapie ist außerhalb des Geländes. Wir treten in eine andere Welt: lichtdurchflutete Empfangshalle, Gemälde an den Wänden, schwarzes Leder und Stahl anstelle klappriger Plastikstühle und abgestoßener Wände in der Tumorambulanz.

Die Sekretärin thront mit einer Kollegin in einem Büro aus „Schöner Wohnen“. Während wir im Vorzimmer Platz nehmen, erreicht sie ein Anruf. Offenbar möchte wer-auch-immer einen der Räume des Gebäudes für eine Veranstaltung nutzen. Wird kategorisch abgelehnt – nein, die brauchen alle unsere Studenten. Und bitte, rufen Sie das nächste Mal nachmittags an (es ist gerade kurz vor halb elf). Das stört mich, ich habe hier Patienten. Aha, ich wusste gar nicht, dass ich dupliziert existiere. Außer uns ist hier niemand weit und breit.

Auf ein erneutes Klingeln folgt ein entspanntes Telefonat mit ausführlicher Schilderung des kürzlichen Wellness-Urlaubs. Klar, dass das nicht stört.

Ich schnappe mir vom stählernen Design-Regal ein Infoblatt zur Strahlentherapie. Entsetzt lese ich: 30 Behandlungen an 30 Tagen hintereinander. Wie soll das von Nordfriesland aus gehen? Während der Mann überlegt, eine Liste anzulegen und Freunde und Verwandte zu bitten, mich abwechselnd zu fahren, entschließe ich mich innerlich, a. entweder die Therapie erst gar nicht anzufangen – denn sie bedeutet fünf Wochen, in denen wieder nur der Krebs und seine Behandlung das Leben dominiert, oder b. mir in Kiel ein Zimmer zu nehmen, um mir die tägliche Fahrerei von Nordfriesland in die Landeshauptstadt zu sparen.

Wir warten eine knappe Stunde im 2. Stock. Auch hier elegante Lederpolster, die zum Drauflümmeln einladen. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt.

Der Professor mit unfassbar wasserblauen Augen empfängt uns mit den Worten: Wollen Sie die Metastase behandeln lassen? Dass es sich um eine solche handelt, ist zu 90% sicher.

Der Arzt, der sich selbst als „chronischen Optimisten“ bezeichnet, zeigt uns die Aufnahmen des MRT. Auf dem Bildschirm starrt mich mein aufgeschnittenes Gehirn an, in dem ein winziger grauer Punkt zu sehen ist, kaum streichholzkopfgroß. Geduldig, sachlich und souverän schildert uns Prof. D. die Behandlungsoptionen, für die keine Eile besteht, da die Metastase mit ihren 2 mm winzig ist, sich bis zur nächsten Kontrolle seiner Einschätzung nach allerdings vermutlich verdoppeln wird. Er rät zu einem Eingriff mit einem Cyberknife in Güstrow. Schon der Begriff hat Stil, klingt aufregend nach Star Wars und Weltallabenteuern. Auf zum Battle, zur nuklearen Schlacht!

In Kiel kann diese Form einer minimal-invasiven Operation noch nicht durchgeführt werden, da es den OP-Roboter noch nicht gibt. Dabei wird einmalig eine hohe Dosis radioaktiver Strahlung gebündelt verabreicht, um den Tumor oder die Metastase zu zerstören, umliegendes Gewebe aber möglichst zu schonen. Es klingt fast wie im Märchenland: Wir fahren nach Güstrow ins Seenplattenparadies, führen ein Beratungsgespräch, übernachten im Hotel, schlendern tags drauf in die Klinik, ich bekomme Nuklearstrahlen in den Kopf geschossen, vergnügt fahren wir noch am selben Tag nach Hause, denn der Eingriff ist ambulant. Ich dürfte sogar selbst am Steuer sitzen. Und wenn sie Nebenwirkungen haben, kriegen sie von mir eine Flasche Champagner! Na, da schlag ich doch ein, haben wir doch vor ein paar Tage gerade mit Champagner aus der Champagne mit unseren Freunden auf meinen Geburtstag angestoßen! Fürs Scherzen bin ich schon wieder zu haben. Aber wehe, mir fällt nur ein einziges Haar aus, dann kriege ich zwei. Topp, die Wette gilt!

Der Termin soll möglichst binnen einer Woche vereinbart werden, ehe die Untersuchung beim Amtsarzt ansteht. Mit Verdacht auf eine Hirnmetastase habe ich keine Chance, meine Arbeit in der Schule wieder aufzunehmen. Wenn Sie behandelt sind, stelle ich Ihnen eine Bescheinigung aus, dass Sie, was diese Stelle angeht, als geheilt gelten. Wow, große Worte. Er ermutigt mich sogar eindringlich, wieder arbeiten zu gehen. Wir raten unseren Patienten, sich lieber als gesund statt als krank anzusehen. Alles, was das Leben in normalen Bahnen hält, ist Ihnen förderlich. Ja, die Erfahrung habe ich in einem Jahr Krankenstand auch gemacht, also auf zurück in die Normalität!

Eng umschlungen verlassen wir die Klinik, unser Achterbahnleben nimmt wieder Fahrt nach oben auf. Es mutet schon grotesk an. Die Tatsache, eine Metastase im Gehirn zu haben, ist als solches eigentlich eine Katastrophe, aber wir sind in Hochstimmung, dass es eine Behandlung gibt, die mir eine Reihe von Nebenwirkungen erspart. Darauf ein lecker Essen! Bei strahlendem Sonnenschein und kaltem Wind sitzen wir an der Kieler Promenade auf der Dachterrasse eines Restaurants und fangen gleich wieder an, Pläne zu schmieden. Sizilien! Hatten wir beide im Sinn, sind uns sofort einig, da wollen wir hin. In den Herbstferien! Ich dachte, in den Osterferien. Hm, lieber Herbstferien. Mein Zeitparameter ist sehr knapp bemessen.

Abends erzählen wir nach dem Abendessen die Ergebnisse des Befunds und des Arztgesprächs. Die Kinder reagieren sehr gefasst, das Cyberknife hat auch für sie einen eher aufregenden Klang. Keine Tränen, nur die Große steht von ihrem Platz auf und drückt mich fest, signalisiert mir so, dass sie die Tragweite einer erneuten Ausweitung der Krankheit wohl einzuschätzen weiß. Ich bin unendlich stolz auf die Kinder, wie souverän sie mit dieser Situation umgehen. Elsa macht gleich Abwasch, ohne erinnert werden zu müssen. Ihre Art, Unterstützung zu signalisieren.

**

Noch kein Termin für Güstrow. Ich gehe davon aus, dass es in der letzten Ferienwoche nichts mehr mit dem OP-Termin wird, ist mir recht, dann eben in der ersten Schulwoche.

**

Der Wecker reißt mich aus dem Tiefschlaf. Geburtstagslichter und Geschenke morgens um 5.30 Uhr für den 20. Geburtstag der großen Tochter. Um 6 Uhr müssen wir spätestens los.

Wabernder Nebel über den Feldern, magisches Licht, Aufbruchsstimmung. Bin in meine Igelhaut gepackt, stachelspitz. Dumpfbacke vor mich hin, hab eine Scheißangst. An der nächsten Tankstelle therapiere ich mich mit Espresso und Bagel.

Pünktlich auf die Minute kommen wir in Güstrow an. Eine Orchidee begrüßt uns im Eingangsbereich eines kleinen, hochgerüsteten Zentrums, auf die grüne Wiese vor dem Klinikum gebaut. Die MTA bemüht sich um Patientenfreundlichkeit, ist sehr aufmerksam. Ich fühl mich hier fast wie ein VIP. Zur Bestrahlung gibt’s inklusive einen individuellen Fachvortrag zum Cyberknife. Und hier das CT, so wird die Maske gemacht, man beachte die 1,5 m dicken Wände, das Gerät ist eigentlich ein Industrieroboter, die Software stammt aus Lübeck. Der ehrfurchtgebietende Roboter steht in Miniatur am Empfang. Sieht so spielzeuglustig aus. Happy high-tech. Es beruhigt mich, zu wissen, was auf mich zukommt, wie wo wann was abläuft.

Auf dem Tisch im Wartezimmer langweilt sich ein einsames leeres Wasserglas. Ich bin also nicht die Einzige, die sich heute der Behandlung unterzieht, auch wenn wir die Einzigen in dem Leder-und-Stahl-Wartezimmer sind. Zur Unterhaltung gibts Maxi, Bild der Frau, Super Illu, das Goldene Blatt und eines dieser Magazine für Haus und Garten, von denen man Depressionen bekommt, wenn man an das eigene sanierungsbedürftige Zuhause und leere Portemonnaie denkt.

Nächste Station: MRT in einem nahe gelegenen Ärztehaus. Im Erdgeschoss offeriert das Restaurant “Zum Wartezimmer”. Gerichte vom Landarzt- bis zum Radiologenteller. Landarztteller (Schnitzel) ist am billigsten, Radiologenteller (Rumpsteak) am teuersten.

Trübe Praxis, nur Kunstlicht. Eine alte Dame seufzt ratlos neben mir vor sich hin. Der Pfleger fertigt die Patienten wie Nummern einer Endlosschleuse ab. Ich erinnere mich an eine Praxis in Flensburg, wo ich im Winter zehn Minuten in Unterwäsche in der Umkleidekabine vor mich hin fror, um anschließend – in Unterwäsche! – Blut abgenommen zu bekommen und wieder zehn Minuten frierend zu warten, bis mich die RTA in die Röhre schob. Empathiefaktor unterirdisch.

Mit den Befunden zurück zum CyberKnife. Das CT geht fix, parallel fertigt die MTA die Maske. Die blaue feinlöchrige Plastikplatte, die im Wasserbad auf 68 Grad erwärmt wurde, legt sich wie ein warmer Waschlappen auf mein Gesicht, Nach und nach härtet das Material aus und die Haut fühlt sich zusammengeschrumpelt an wie getrocknete Farbklekse auf der Haut.

Meine Star-Wars-Maske gefällt mir außerordentlich, die ist reif für den Theaterfundus. Noch ein hübsches Foto, klick, damit es keine Verwechslungen gibt und mir aus Versehen ein Stück Tumor aus dem Kopf geschossen wird, wo gar keiner ist, und schon ist Feierabend für heute.

14 Tag und ein ganzer Tag Zeit bis wieder 14 Uhr. Stadterkundung und Stadtbummel. Güstrow schläft hübsch vor sich hin, preist sich als “Klein-Paris des Nordens”. In der Altstadt unterliegen die DDR-Restruinen saniertem Klassizismus. Pflichtprogramm Ernst-Barlach-Gedenkstätte, Dom, Schloss. Der Schlossgarten hält nicht mehr das, was er auf dem Prospekt verspricht, dümpelt in trockener Monokulturen-Einsamkeit vor sich hin.

Zum Abendessen im Hotel gibt’s Sauerfleisch und Schweinefilet vom fast ausgestorbenen Wollschwein. Hilft Fleisch essen vorm Aussterben?

Im Hotelzimmer inspiziere ich sachkundig das Bad, scanne Farbe, Größe, Glanz der Fliesen, Fugen. Schließlich ist unser Bad ein Sanierungsfall und seitdem bin ich Spezialistin für alle Fälle rund ums Bad. Das Klo versteckt seine Schrauben, der Spülrand präsentiert sich ohne Rand, damit man später nicht den Kalk wegschrubben muss, hat sogar diesen absenkbaren Klodeckel für all die, die nicht wissen, wie man einen Klodeckel zumacht. Beim Duschen kann man sich im Spiegel Format Ballettsaal selber zugucken, wie es geht, bevor der Dampf alles gnadenvoll beschlägt.

**

Unruhig geschlafen. Ein Luxushotel schützt auch nicht vor rasender Angst vor einem Beschuss des Gehirns.

**

Die im Zimmer ausliegende Zeitschrift empfiehlt in dem Dreiseitenartikel “So werden Sie zur Sexgöttin”: Während der Mann Fußball guckt, Oberschenkelübungen auf dem Boden vor ihm machen, Beine grätschen und schließen, und natürlich dazu nur ein Höschen tragen. Ach du je, was macht man denn da als Frau, wenn der Mann kein Fußball guckt?

Bestes Rezept gegen den Tod? Sex. Steht nicht in dem Artikel. Hält garantiert lebendig. Und ist garantiert nebenwirkungsfrei. Vermutlich sogar lebensverlängernd. Ob es dazu Studien gibt? Sex dreimal die Woche verlängert die durchschnittliche Lebensdauer um 2,74 Jahre oder so.

**

Ausgiebiges Frühstück. Wir senken im Restaurant die Altersquote deutlich. Die lebenslustigen Rentner auf Urlaubstour sind schon wie ein Schwarm Krähen übers Buffet hergefallen. Ich pflücke die letzte, traurig in Soße schwimmende Shrimp aus der Schüssel.

Von einer Bank aus krakehlt uns eine geistig Verwirrte hinterher: Junger Mann, nehmen Sie den Arm von der jungen Frau. Und aggressiver: He, nehmen Sie den Arm von der Frau. Und noch einmal: Nehmen Sie den Arm endlich herunter!

Scrabble spielen am Güstrower See. Die Sonne brennt von oben. Gäbe es keine Behandlung, wäre es ein idealer Urlaubstag. Schöne Illusion im Krankenirrsinn.

Zurück zum CyberKnife. Mir ist flau. Nach kurzer Wartezeit gehts los. Die Wollsocken warten auf mich, der Pullover des Liebsten legt sich mit tröstender Wärme um meinen Körper. Welches Kopfkisserl hättens denn gern? Mittelhart. Ich werde auf der Pritsche mit der Maske festgeschnallt. Nase und Mundöffnung bleiben frei, der Mann küsst mich. Durch das feinlöchrige Plastik kann ich den schmucklosen Raum schemenhaft erkennen. Ich schließe die Augen, die Tür fällt zu, wommmm! Allein im Roboterraum mit 1,5m dicken gepanzerten Wänden, wie ich weiß. 23 Grad. Vier Kameras registrieren jede Bewegung, wenn was ist, Hand heben. Alles klar, pures NSA-Gefühl: Selten so gern überwacht worden wie heute.

An der Grenze zur Panik. Ein paar Tränen beginnen von selbst zu laufen. Abwischen geht nicht, die Maske hockt auf dem Gesicht.

Der Roboter nimmt Fahrt auf, leises, sich steigerndes Sirren. Ich darf mich nicht bewegen. Den Körper auch nicht? Was mach ich, wenn ich husten muss? Spucke sammelt sich in meinem Mund. Darf ich sie runterschlucken? Muss ja wohl. Mein Hinterkopf beschwert sich ziemlich schnell über die unbequeme Dauerfixierung auf der Unterlage. Mittelhart fühlt sich schnell bretthart an wie Beton.

“Es geht los, die Untersuchung dauert 28 Minuten”, tönt es blechern aus dem Lautsprecher, der die Verbindung zur Welt der Gesunden hält. Ich dachte, die Untersuchung läuft schon längst. Mist, da hätte ich mich ja nochmal zurechtruckeln können. Ok, ab jetzt, die Zeit läuft. Nein, ich will nicht alle fünf Minuten wissen, wie lang es noch dauert.

An Einschlafen ist nicht zu denken, wie ich es sonst beim MRT schaffe, also rette ich mich in mein Dia, das ich mir in stressigen Situationen im Kopf anknipse. Intensive Konzentration darauf, das Sonnenblumenfeld heranzuzoomen, das Gesamtbild stellt sich nicht so recht ein.

Woher kommt plötzlich die Musik in meinem Kopf? Und warum gerade dieser Text, aus dem Nichts in mein Bewusstsein gesprungen? – He, ich bin doch Atheistin, was soll das?

Hilf, Herr
… meines Lebens, dass ich nicht vergebens hier auf Erden bin.
… meiner Stunden, dass ich nicht gebunden an mich selber bin.
… meiner Tage, dass ich nicht zur Plage meinem Nächsten bin. – Wie wohl! –
… meiner Seele, dass ich dort nicht fehle, wo ich nötig bin.

Verstehe. Überleben ist angesagt.

Ich wage es nicht, die Augen zu öffnen, aus Angst, dass mich die Panik frisst, wenn ich den um mich kreisenden Industrieroboter durch die winzigen Löcher der Maske über mir schemenhaft erkenne. Ich spüre aber, wie er mal rechts, mal links mich umkreist. Ich mag gar keine Science-Fiction-Filme, aber das muss so ein außerirdisches Wesen mit großen Facettenaugen und roboterhaften Bewegungen sein, eine stählerne Gottesanbeterin in Weiß, die mich aufmerksam beäugt. Mein Laserschwert ist mein Sonnenblumen-Dia. Es sirrt, knackt, knarrt und knarzt um mich herum, Bilder eines alten, schweren Drahtseils, eines in die Jahre gekommenen Lastenaufzugs.

Hallo Arme, hallo Schultern, entspannt euch. Hallo Beine, hallo Füße, hallo Schultern, entspannt euch. Hallo Stirn, entspann dich. He Schultern, ich sagte, entspannt euch. Nach und nach weicht die Angst beobachtender Neugier. Ich höre, höre, höre, nur die Augen bleiben fest, fest zu.

Die Tür zum Universum der Gesunden öffnet sich.

Ende der Bestrahlung. Ich gehe gedanklich meine Funktionen durch. Wer bin ich, warum bin ich seit wann warum mit wem wozu wo. Arme heben sich auch wie gewohnt, Verdrahtung Gehirn – Körper klappt. Modus normal. Nix weggeschossen, was ich existenziell brauche. Strike!

Der Liebste kommt mit der MTA in den Panzerraum, lächelt, betrachtet mich aufmerksam. Ich lächle zurück: Wer sind Sie? Wir lachen.

Jetzt nix wie weg, die Maske nehme ich als Souvenir meines Ausflugs in die Sci-Fi-Welt mit. Können Sie mir die als Geschenk einpacken – rein rhetorische Frage.

Das Abschlussgespräch mit dem behandelnden Arzt gerät zur Farce. Ich frage: Ist eine Besprechung der neuen Befunde telefonisch möglich? So läuft das nämlich auch in Kiel. Huh, falschen Knopf gedrückt, das nennt man Triggerpunkt. Es folgt ein minutenlanger, emotional-erregter Sermon über renitente Patienten, die a. die bestmögliche medizinische Versorgung wollen, b. aber nicht zur Nachsorge kommen oder c. das telefonisch abmachen wollen. Der Meister in der Autowerkstatt stellt auch keine telefonische Diagnose über den Zustand des Wagens, wenn er brummt. Mit einem Auto wurde ich nach einer Intensivbehandlung bisher noch nie verglichen, so wag ich ein: Äh, ja, aber darum geht es gar nicht. Es war nur eine Anfrage. Was soll hier nicht gehen, was in Kiel Standard ist? Die Nachsorge in Kiel zu machen hält er auch nicht für eine gute Idee. Dann muss es ja wohl ums Geld gehen. Das bestätigt mein Hausarzt: Es gibt einen teuren Apparat. Der teure Apparat will finanziert werden. Der Arzt ist der König über den Apparat. Der Patient kommt zum König zur Audienz. Die Audienz wird vom König huldvoll gewährt. Der Patient muss allen Audienzen nachkommen, denn der teure Apparat muss finanziert werden.

Die Nachsorge mache ich auf keinen Fall in Güstrow, sondern ich werde mich an Prof. D., meinen behandelnden Strahlentherapeuten, wenden, der mich nach Güstrow überwiesen hatte. Eigentlich besteht ja ein Kooperationsvertrag. Patient als Objekt der Begierde.

Wir ertränken auf der Rückfahrt unseren Ärger über die unprofessionelle Darbietung in Kaffee, der Mann wählt Torte “süßer Traum”.

Schlafe die meiste Zeit der Rückreise, emotional ausgelaugt und erschöpft.

Die Kinder freuen sich, dass sie mich unversehrt vorfinden. Der Sohn hat extra Bratkartoffeln gemacht. Falle früh ins Bett.

**

Tags drauf. Der Kopf zentnerschwer. Mir saust eine Achterbahn pausenlos durch die Kopf. Die Glieder schmerzen wie nach schweren Schlägen. Lege mich hin, kann mich nicht rühren, mag nichts, nicht essen, nicht reden, aufstehen schon gar nicht.

Wir fahren trotzdem zur Silberhochzeit. Ein trotziges “jetzt gerade” rappelt mich hoch. Wir schlemmen, was die leckere Tafel hält, und tanzen, dass die Rockschöße fliegen. Leben, du hast mich wieder.

**

Wieder tags drauf. Nur noch müde und beduselt im Kopf, leichter Schwindel. Glückliche Silberhochzeit-Nachstimmung.

**

Ein Blick in den neuesten Befund, druckfrisch aus Güstrow, und der Fall ist klar: dauerhaft dienstunfähig, reif für die Pensionierung. Wohlfeile Worte: Stellen Sie die Arbeit nicht an die erste Stelle. Das soll wohl tröstlich gemeint sein. Da fehlt noch Klammer auf – genießen Sie Ihre letzten Monate, Klammer zu. Ich denke, ich habe nach einem kompletten Jahr Krankenstand zuhause genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, womit ich die mir verbleibende Zeit zubringen will.

Ich bin natürlich ein Risikofaktor. Ich kann ja jederzeit wieder ausfallen und kann nicht garantieren, dass ich in einem halben, geschweige denn in einem Jahr wieder voll dienstfähig sein kann. Nein, damit kann ich angesichts meiner Prognose tatsächlich nicht dienen.

Nach dem Gespräch fühle ich mich halbtot. Ist ja auch nur zu meinem Besten.

**

Und das sind die Hintergründe der Paragraphen: Angenommen, ich sterbe in zwei Monaten: Dann könnte mein Mann auf die Idee kommen, das Land zu verklagen, weil ich angeblich an den Folgen des Arbeitens gestorben bin und das Land mich schwer krank arbeiten ließ und deshalb schuld an meinem Tod ist. – Ich dachte bisher, der Krebs würde mein vorzeitiges Ableben verursachen. Auf derart einfache Kausalzusammenhänge bin ich bisher noch gar nicht gekommen. Wenn ich den Gedanken weiterspinne, bedeutet das bezüglich meiner derzeitigen seelischen Disposition, dass ich jetzt vermutlich an den Folgen einer Depression sterbe, weil ich nicht arbeiten darf. Vielleicht sollte mein Mann das Land wirklich verklagen.

**

Der Abgrund brennt in mir, aber ich bin schneller. – Diese Sätze von Hermsdorfs letztem Roman ziehe ich mir an, sie passen perfekt.

**

Erinnerung
Im Krankenhaus liegt neben mir eine Türkin, die mit ihrem Mann auf der Rückfahrt von einer Hochzeitsfeier einen Unfall hatte. Ihr Mann liegt in Rendsburg, sie wurde wegen einer komplizierten Handverletzung in die Uniklinik verlegt. Sie hat nichts, kein Nachthemd, kein Handtuch, keine Zahnbürste, keinen Kamm, nichts. In einem dieser entwürdigenden OP-Kittel liegt sie im Bett. Mit großer Mühe versuchen wir uns zu verständigen. Mit ihrem Gipsverband ist sie völlig hilflos. Ich schmiere ihre Brote beim Abendbrot, spiele Krankenschwester und vertreibe so die Panik vor meiner OP am nächsten Tag. Die Zeit fällt auf mich wie ein nasser Sack.

Die ganze Nacht hindurch verfolgt mich das Schmerzensstöhnen aus dem Nachbarbett, an Schlaf ist nicht zu denken.

Sie liegt schon den dritten Tag auf der Inneren Medizin und niemand hat der Frau beim Waschen oder Zähne putzen geholfen. Ich organisiere für sie Waschzeug von zuhause, meine Nachbarin kauft ihr ein Nachthemd. Strahlendes Gesicht, als sie das Hemd überstreift.

Abends gehe ich zum Automat, um eine Telefon- und TV-Karte zu kaufen, damit die Frau endlich mit ihrem Mann telefonieren kann. Sie weiß nicht, wie es ihm geht. Mir fehlt das passende Kleingeld. Ich wende mich an einen Mann, hellhäutig. Können Sie mir helfen, ich brauche Wechselgeld für eine. Mitpatientin? Er macht sich gar nicht die Mühe, nachzusehen, sondern wendet sich gleich ab. Ein dunkelhäutiger Mann steuert auf mich zu. Haben Sie Wechselgeld? Ja, aber nicht passend. Rest kannst du behalten, ein Lächeln und er ist auf und davon.

**

Erinnerung: HNO
Dass ich mit Wartezeit rechnen muss, werde ich gleich vorgewarnt. Klar, kein Problem, es macht ja auch gar nichts aus, als Nervenwrack rumzusitzen, auf den Ultraschall zu warten und zu hoffen, dass nirgends Lymphknotenmetastasen zu sehen sind. Time goes by. Nach zwei Stunden wage ich zu fragen, wann ich dran komme. Patienten kommen und gehen. Ich rechne mir anhand der durchschnittlichen Verweildauer der Patienten aus, wann ich drankomme. Eine Mutter erstickt die Sorge um ihr neben ihr tobendes Kleinkind in Strickzeug. In mir erwacht sogleich ein Solidaritäts-Strickgefühl. Ach, sie hatten vor zwei stunden Termin? da müssen sie sich beschweren. Ach so, ich wusste noch gar nicht, dass die Terminvergabe incl. Beschweren funktioniert. als Patientin voller Verständnis für die personelle Unterbesetzung der Klinik und die Hilfsbedürftigkeit vieler Patienten halte ich mich natürlich diskret zurück. Ne, ne, da müssen sie sich beschweren. Ich ruf mal an. Sie kommen gleich dran. Eine weitere knappe Stunde vergeht, dann frage ich erneut. Ich hab sie doch vorhin aufgerufen, aber sie waren nicht da. ich habe zwar das Wartezimmer nicht verlassen, aber das nimmt mir die Sprechstundenhilfe nicht ab. Gnädig gestattet sie mir: Gehen sie mal zum Ultraschall runter, da kommt gleich jemand. den Satz habe ich heute schon einmal gehört, aber ich bin ja eine freundliche Patientin, gehe eine Etage tiefer und hock da erneut rum. Hurra, sonst niemand zu sehen, dann bin ich bestimmt gleich dran. Nach einer halben Stunde stiefle ich wieder nach oben in den 1. stock. Ja, ich hab da vorhin angerufen, aber da hat heute gar kein Arzt dienst. Auf die Idee, mir das mal eine Etage tiefer sitzend mitzuteilen, kommt die Sprechstundendame nicht. Übrigens ist die Chefärztin ist auch nicht da. Als die Tür zur vertretenden Ärztin aufgeht, teilt sie mir mit, dass sie nicht weiß, ob ich heute noch untersucht werden kann, es ist so viel los. mein Termin war ja auch schon vor vier Stunden… jetzt hilft nur noch massives Aufbegehren. Ich geh hier nicht weg, bis ich untersucht worden bin. Sorgen sie dafür, dass ein Arzt kommt. das ist ja nicht meine Schuld, geht gleich die Verteidigungsmaschinerie los. Ja, aber meine auch nicht und mein weg zur Klinik ist weit. Drei Stunden im Auto hocken für nix? Plus vier Stunden Wartezeit? Das macht auch mein beträchtlich gewachsenes Strickwerk nicht wett, das kann auch in netterem Ambiente wachsen. Eigentlich benötige ich als Patientin die maximale Fürsorge und Zuwendung, denn mein Nervenkostüm ist von der Anspannung komplett zerrüttet. Metastasen oder nicht in den Halslymphknoten, that ist the question. Schließlich wird von irgendwo ein Arzt aufgerufen, der in der Dunkelkammer Ultraschall sichtbar lustlos und genervt – wahrscheinlich beschere ich ihm gerade eine weitere Überstunde – meinen Hals durchleuchtet. Na also, was hamse denn, alles in Ordnung.

Der vertretenden Ärztin muss ich dann meinen Fall schildern, von meiner Akte hat sie keine Ahnung, einmal Hals abtasten, das wars. Ich geh raus, im Flur läuft mir ein Mann über den Weg. Wo die Nase war, klebt nur noch ein riesiges Pflaster. Das ist keine Maske, das ist real. Mir gehts doch gut.

**

Blue
Bisher hatte ich kein einziges blaues Kleidungsstück in meinem Schrank – abgesehen von Jeans. Dieses Jahr habe ich gekauft: eine blaue Jacke, einen blauen Rock, blaue Socken, ein blaues T-Shirt, ein blaues Top, einen blauen BH, eine blaue Weste, blaue Stiefel. Wär ich Picasso, wärs die blaue Phase. So nenn ichs: Feeling blue. Bedeutet: Dumpfbacke und trübsegle vor mich hin.

Dabei ist laut De.What-Character-are-you.com meine innere Farbe rot. Irgendwas läuft falsch.

**

Yoga
Und weil Yoga so unheimlich gesund ist, unheimlich entspannt und unheimlich gut für alles und überhaupt ist, lieg ich jetzt also auf dieser blauen, klebrigen Plastikmatte, den Kopf gestützt auf einem gelb-schwarz gesprenkelten Schaumstoffblock, der aussieht wie einer unserer heruntergekommenen, verschrumpelten Tafelschwämme in der Schule. Damit soll ich mirs gemütlich machen. Sofort bricht eine tiefe Sehnsucht nach meiner kuscheligen Schafwollmatte zuhause aus, auf der kürzlich meine Katze als Zeichen ihrer großen Zuneigung eine totgebissene Maus gelegt hat. Seitdem bin ich ein großer Fan von Trockenteppichreiniger.

Ich habe mir eine Schnupperstunde ausgedungen. Erstmal sehen. Wenn ich dafür bezahle, ist schnüffeln erlaubt. Auch beim Yoga müssen die Finanzen schließlich stimmen.

Im Kursraum grinsen Poster von den Wänden. Durch die Fensterscheiben lugen Sonnenstrahlen rein. Die blenden meine geschlossenen Augenlider sofort aus.

Die Stunde beginnt mit Entspannung. Ich bin wild entschlossen, mich dieser Entspannung gänzlich hinzugeben. Mein Körper merkt auch schnell, aha, es ist Entspannung angesagt und diverse Körperteile fangen an zu kribbeln. Läuft also alles nach Plan.

Nach den ersten sehr, sehr, sehr sanften Übungen bin ich mir sicher, dass es sich ausgeschnuppert hat. Als sich mir in den Entspannungsphasen jedoch langsam, aber sicher nacheinander alle Zehnägel aufrollen und ich ungeduldig darauf warte, wann es endlich weitergeht, wird mir klar, dass ich offenbar in dem Yoga-Kurs genau richtig bin und das Mode-Wort Entschleunigung nötig habe. Tatsächlich tun mir die Atemübungen richtig gut. Bei der Anti-Aggressions-Übung habe ich gar keine Schwierigkeit, mir eine Situation vorzustellen, die mich richtig wild macht.

Beschließe, mein gewachsenes Wissen morgen sofort an meine Schüler weiterzugeben, und speichere den energischen Dampfablass-Tschschsch-Laut gleich als nützlich ab. Nach dreimal ist mir schwindlig, aber ich bin auf Eskalationsstufe Null. Gut. Nachdem ich noch mit sanftem, langem Ausatmen mehrere imaginäre Kerzen gelöscht habe, mich frisch, munter und yoga-verjüngt fühle, steht mein Entschluss fest: Ich trage mich nach Ende des Kurses in die Teilnehmerliste ein. Aber meine Schurwollmatte schlepp ich beim nächsten Mal mit.

**

Wenn ich tot bin und in den Himmel komm – davon geh ich mal aus, weil es in der Hölle, wenn man den Bildern Boschs Glauben schenken will, noch schrecklicher ist als Krebs zu haben – dann hoffe ich, dass es da eine Sortierung nach Todesarten gibt. Eine Ständegesellschaft wird ja vermutlich dort nicht erlaubt sind, aber Todesartengesellschaft wär denkbar, vermute ich. Mit Glück komme ich dann in das Segment Krebstote und wenn ich dann noch mehr Glück hab, gibt es keine Geschlechtertrennung, das will ich hoffen, wenn man im Himmel ein bisschen Spaß nach dem Tod haben will. Dann muss noch die Alterssegmentierung stimmen, unter Fünfzig, und wenn ich dann unglaublich viel Glück hab, entdecke ich irgendwann irgendwo im Gewölk Schlingensief oder Herrndorf. Dann mache ich mich ganz klein, zoome mich auf meiner Wolke unscheinbar heran und höre ihnen zu. Schlingensief, wie er vermutlich wild herumdebattiert, und Herrndorf, ach, ich weiß nicht, was er tun wird, vielleicht wird er schweigen, vielleicht ein paar Roadstories raushauen, egal, ich will ihm nur zuhören. Der Gedanke daran ist so gut, dass er mir die eingeweidewilde, kreischende Angst vor der nächsten Hirnmetastase punktuell vertreibt.

**

Es ist schon bizarr, über die Spielarten des Todes statt der Liebe zu sinnieren. Nach der Krebsdiagnose dachte ich: Sobald sich Metastasen in mein Hirn gefressen haben, mach ich Schluss. Ich will nicht siech und lahm, meiner Sinne und Kontrolle über meinen Körper beraubt, in einem Gitterbett liegen und mich vom Krebs langsam zerfressen lassen, bis die letzten Funktionen sich dem nimmersatten Monstrum ergeben. Dachte ich. Damals. Nun hat mir das Cyberknife die erste Metastase aus dem Kopfe geschossen und ich fühl mich quicklebendig, meine Krankheit sieht man mir kaum an. Manchmal hör ich ein fast erstauntes “Du siehst gut aus”. Danke, für Komplimente bin ich immer zu haben, nur der leise Unterton, eigentlich müsstest du doch ganz anders aussehen, irgendwie von der Krankheit gezeichnet. Einen Krebskranken im Endstadium hab ich mir auch immer abgemagert, wangenknochenkantig, hohläugig und glatzig, allenfalls beflaumt vorgestellt, eher ein wandelndes Skelett als ein Mensch aus Fleisch und Blut. – Die Worte tun mir trotzdem ausgesprochen gut.

An mir ist alles dran: Haare auf dem Kopf, die Schrunden an den Fingern sind seit Beendigung der Therapie geheilt, die Kortison-Dauertherapie bügelt manches Fältchen glatt, Frankreich und Altweibersommer haben Farbe ins Gesicht gehaucht. Ales Tarnung, ist meine Standardantwort auf die scheinbare Diskrepanz zwischen Aussehen und Diagnose. Meist wird dann nicht weiter gefragt.

**

Vier Wochen bis zum nächsten Termin in der Röhre. Ich notiere für den Script des Films mögliche Tötungsvarianten. Soll ein Comic werden. Passt. Stifte kauend fülle ich meinen Notizzettel, am besten tabellarisch mit Pro und Contra, damit mir nix entgeht, grotesk macht es am meisten Spaß und systematisch zu arbeiten war schon immer meine Stärke:

Generell gilt: Das Ganze soll a. möglichst schmerzfrei, b. schnell, c. ohne Kollateralschaden und d. so ablaufen, dass der Freitod nicht wie ein Freitod aussieht, weil das nicht zuzumuten ist.

Also: vom Zug überfahren lassen, geht nicht, traumatisiert den Zugführer. Erhängen ist eklig, Pulsadern aufschneiden erfordert Heldenmut und sieht saumäßig aus. Ebenso vom Hochhaus springen. Das erscheint machbar, geht flott, ist nur ein Schritt in den Abgrund, dann freier Fall ins Nichts. Die weibliche Eitelkeit protestiert: Bist du irre, dann sieht der Kopf wie ein aufgeplatzer Kürbis aus. Ins Wasser gehen ist aber verdammt kalt im Herbst, doch das Wattenmeer könnte bei einsetzender Flut sehr hilfreich sein. Geht nicht, weil eine fehlende Leiche die schlimmste Traumatisierung für Angehörige ist. Noch mehr Leid für die Liebsten kommt gar nicht in Frage. Vor einen Baum fahren? Echte Alleen sind in Deutschland sehr rar, und, wenn überhaupt vorhanden, sind sie vor Lebensmüden durch Leitplanken geschützt. Außerdem sind Autos ziemlich teuer und das einfach zu Matsch zu fahren, erscheint reichlich verantwortungslos. Den Angehörigen das Portemonnaie zusätzlich zur Beerdigung zu belasten, ist unhöflich. Außerdem kann ein Verkehrsunfall buchstäblich in die Büx gehen und was hat der Todeswillige davon, als Pflegefall in der Klinik zu enden? Bleiben also Tabletten, die schnell, ohne Kotzmanöver ins Jenseits befördern. Koch ein lecker Breichen, rühr ein tödlich Pülverchen, leg dich in dein Bettelein und schlaf hold und selig ein. Klingt wie im Märchen. Tasten-Fantastereien sind einfach.

**

Nicht des Lebens, des Sterbens bin ich müde.

**

Wir brauchen in Deutschland dringend eine Gesetzesänderung zur Sterbehilfe. Lasst den Sterbenden das Recht auf den Tod. Stattdessen zwingt man Todkranke wie Herrndorf sich eine Kugel ins tumorverpestete Hirn zu jagen, sich zu erschießen, zu vergiften, zu erhängen, sich aufzuschlitzen, sich zu ersäufen, zu zermatschen mit Hilfe von Bahn, Auto, Klippe oder was auch immer. Gott hat das Leben gegeben, er nimmt es, säuseln die Gläubigen.

Das muss ein grausamer Gott sein, der das Durchquälen bis zum Schluss auferlegt. Das Schicksal gilt es anzunehmen, weiß der ZEIT-Redakteur-Allesbesserwisser.

Aber die Aufgabe Sterbender ist es auch nicht, die Gesellschaft zu Demut, Mitgefühl und Fürsorge zu erziehen, indem sie das weichende Leben bis zum Geht-nicht-mehr tragen. Niemand, der krank ist, soll sterben müssen, weils billiger, praktischer, sauberer ist! Wir sind keine Kleenex-Gesellschaft. Aber jeder Todkranke soll sterben dürfen, wenn er es möchte, sein Wille und sein Geist ist zu respektieren bis zum Schluss. Wer nicht die Kraft hat zu leiden, das Sterben auszuhalten, soll gehen dürfen. Mit ärztlicher Hilfe. Eine Palliativmedizin, die den Sterbewunsch Todkranker ignoriert um des längeren Überlebens willen handelt nicht zwangsläufig menschlich für jeden Patienten.

**

Ein schneller Tod ist ein gütiger Freund, ein langes Sterben ein grimmiger Feind.

**

Schlagzeile zum Eckpapier der Expertenkommission: “Eine Spritze ist keine Lösung”. Der Oberarzt aus einem Hospiz meldet sich zu Wort. Die allermeisten Todkranken finden bis zum Schluss das Leben schön, es kommt nur auf die richtige Fürsorge an. Ich schätze und respektiere zutiefst die Arbeit der Hospiz-Bewegung, aber sie sollte nicht in Gefahr geraten, den Menschen in seiner individuellen Entscheidung aus dem Blick zu verlieren.

**

Sterbehelfer Dr. Arnold sagt in der ZEIT: Wir können nicht alle Schmerzen nehmen.
Genau davor hab ich eine verdammte Scheißangst.

**

Der Intendant des MDR hat sich das Leben genommen, nach 46 Jahren im Rollstuhl. Mehr oder weniger schockierter Artikel in der ZEIT. Not tut eine breite Debatte zum Thema. Ich stelle mir folgende Schlagzeilen vor: Mein Tod gehört mir frei nach: Mein Bauch gehört mir. Leider kann es ja keine Schlagzeile geben, wie z.B. Ich habe mein Leben freiwilig beendet statt Ich habe abgetrieben.

**

Solidarpakt
Ich schlage dem Freund vor: Wir Todkranken gründen ein Netzwerk. Der Todkränkestere erhält vom Zweitkränkesten den tödlichen Schlummertrunk. Welcher Todgeweihte wandert schon fünf Jahre in den Knast für Beihilfe zur Selbsttötung? Dumm ist es für den am wenigsten Todkranken. Er muss warten, bis todkranker Nachschub kommt. Aber der Sensenmann sorgt ja immer für reichliche Ernte.

**

UKSH
Willkommen im Schilderwald der Dermatologie. Wo früher der Pförtner gemütlich in seinem Kabuff saß, einem stets ein freundliches Lächeln schenkte, nicht müde, alle Fragen, auch telefonisch, zu beantworten, ab und zu sein Zigarettchen vor der Tür rauchend – da empfängt den Patienten jetzt ein Infoschild. Der Weg in die Anmeldung führt direkt über den Kasten mit den Wartenummern, scheinbar. Nicht unbedingt, denn das bedeutsame Schild verweist den Patienten darauf, ob man a. am Automaten eine Nummer ziehen oder b. das Informationstelefon benutzen muss. Es gibt jeweils drei Möglichkeiten, ob man Fall a. oder b. ist. In Spalte 3 und 4 erfährt man, in welchem Fall man c. keine Nummer ziehen und d. wohin man sich dann wenden soll. Damit bin ich bei neun Optionen angelangt, die für mich zutreffen könnten. Erinnert mich an das Wahrscheinlichkeitsbäumchen im Matheunterricht, hat mich in seinen Verwachsungen auch immer fasziniert. Begibt man sich in das Wartezimmer im Erdgeschoss, das aber kein Wartezimmer für aufzunehmende Patienten ist, weist ein weiteres Schild darauf hin, dass man hier falsch ist. Ein drittes Schild zeigt den Weg in den 1. Stock. Aha.

Da hat jemand aber scharf nachgedacht. Verwunderlich nur, dass Notfallpatienten als Letztes aufgeführt sind. Ich frage mich, wie ältere, des Lesens oder des Deutschen kaum mächtige Personen das Schild begreifen können sollen. –

Der Pförtner scannt nun den ganzen Tag Unterlagen ein.

**

Die vier Stockwerke bis zur Sonderstation der Dermatologie. Fahrstuhl oder Treppe? Mein persönliches Gelübde, abgelegt, als ich vor der Erst-OP diese Stufen zur Station hochlief, damals joggend. Solange ich kann, gehe ich diese Etagen zu Fuß! Es sind auch heute 80 Stufen.

Ich komme ins nächste Wartezimmer, das sich auf Station Tagesraum nennt.

Ein alter Mann, seiner Sinne mächtig, an Krücken gehend, kleine schwarze Leberflecke im ganzen Gesicht, Melanome, argwöhne ich, müder, todtrauriger Blick, an Krücken mühsam gehend. Der Mann wird zur Untersuchung abgeholt. Er bekommt einen Rolli angeboten, zögert. “Das sieht so nach Aufgeben aus.” – Dann setzt er sich hinein. Gut so. Wir Kranken dürfen unseren Lebensmut nicht davon abhängig machen, ob wir im Rollstuhl sitzen oder nicht. Aber es rührt mich, dass diesen alten Mann der Verlust seiner Kraft ebenso trifft wie mich.

**

Die Schwester fragt mich: Haben Sie Ihre Blutwerte mit? – Ui. Das ist mir noch nie passiert. Hab ich vergessen. Sie machen Witze, die Schwester blickt mich fragend an. Hastiges Verschieben meiner Termine. Mein bereits abgezaftes Blut ist schon eingeschickt und soll nun auf die entsprechenden Werte untersucht werden. Also zuerst ins MRT: Eine junge Frau trinkt mit erstaunlicher Gelassenheit den halben Liter Kontrastmittel. Ihr Partner hält das Gespräch in Gang. Jetzt bloß nicht ins Schweigen und damit ins Grübeln verfallen. Ja, bringe dir immer einen Menschen mit, wenn du als Patient das Krankenhaus betritt, der die Lizenz zur Gute-Laune-Stimmung besitzt.

Umkleide zum CT, Aufklärungsgespräch. Der junge Arzt fragt: Sie wissen Bescheid? Und fährt fort auf mein Nicken hin fort: Können wir uns das sparen? Entschiedenes Jep!! Danke, der Satz tat so gut!

**

Oh, Sie sind aber gut gerüstet, begrüßt mich die RT-Assistentin, als ich meine Wollsocken auspacke. Als CT- und MRT-Profi, der ich inzwischen bin, packe ich mir eine Jogginghose für die Bequemlichkeit, natürlich ohne jegliche metallenen Ösen, und ein Paar warme Socken ein, denn der Untersuchungsraum ist auch im Sommer immer kalt. Ich bin hier ein echter alter Hase. Geschlachtet wird der noch lange nicht, der ist zäh, zäh.

**

Warten
Gestaltungsstrategie Sektion „Warten auf den Befund“. Ich trinke Cappuccino. Ich esse einen Bagel. Ich kaufe Wolle. Ich kaufe Espressobohnen. Ich gehe in den Dom. Ich gehe ins Museum. Ich trinke einen weiteren Cappuccino. Ich esse ein Stück Himbeertorte. Ich koche Kartoffeln. Ich pelle Kartoffeln. Ich buttere und salze Kartoffeln und esse sie. Ich trinke einen Espresso. Ich guck bei facebook vorbei. Ich guck bei whatsapp vorbei. Ich check meine Mails. Ich check mein Bankkonto. Ich guck nochmal bei facebook vorbei. Ich mache ein Nickerchen. Ich stricke drei Reihen. Ich lese zwei Seiten. Ich wasche den Kartoffeltopf ab. Ich wasche den Teller, das Glas, die Gabel, das Messer ab. Ich mache ein Nickerchen. Ich guck bei facebook vorbei. Ich stricke fünf Reihen. Ich löse „um-die-Ecke-gedacht“. Ich freu mich. Ich mache Abendbrot. Ich esse Abendbrot. Ich stricke, bis ich ins Bett gehe. Ich trink vorher noch einen Caro, null Koffein. Ich schlafe. Ja, das klappt.

**

Spuren
Wandeln auf Erstsemester-Spuren. Vor 26 Jahren mit dem Studium in Münster angefangen. Vertrauter Empfang, Fahrräder zuhauf – und es nieselt. Den direkten Weg zum Dom finde ich nicht mehr, aber am Servatii-Platz protzt Erotik-World noch immer mit 90 Kabinen zur Hol-Dir-einen-runter-Auswahl. Gegenüber bietet das Brautwarengeschäft an, einen Tag Prinzessin zu spielen. Die Kleider sind noch so grotesk hässlich wie ehedem.

Mit Cappuccino und Bagel stimme ich mich auf den Tag ein, kaufe Wolle. Welche Wolle, welches Strickwerk eignet sich im großen Spiel des Lebens für welche Lebenslage? Ajourmuster sind jedenfalls nicht krankenhaustauglich. Wegen der mangelnden Konzentration geht nur glatt rechts, auch wenn ein krauses Muster passender meine Gemütslage spiegeln würde.

Frisch gemahlene Espressobohnen setzen in meiner Handtasche ihre Duftmarke. Auf dem Wochenmarkt vermisse ich den Stand mit den Kartoffelpuffern, wo man sich eine Runde fetttriefende Finger holte. Stattdessen kann man jetzt hip Espresso trinken.

Mein Lieblings- ist einem Liebloscafé gewichen, drinnen gähnt Leere. Mein geplantes Erinnerungsfoto vorm Germanistischen Seminar entfällt, da im Fürstenberghaus jetzt das Archäologische Museum thront.

Das neu eröffnete Landesmuseum verbreitet lässiges Weltstadtflair: Schaut her, da steh ich, inner Provinz! Ich will besucht werden – und das soll es auch, woll!

Abends ziehe ich mit meiner Freundin wie in alten Zeiten eine Sperrmüll-Runde um den Block, denn hier gibt es noch den einen, wahren Sperrmüll zum festen Termin. Ich hätte gern eine Kaffeemaschine, wünscht sich meine Freundin – und der Sperrmüll antwortet ein paar Straßen weiter: Dein Wunsch ist mir Befehl! Nimm!

**

Bei Espresso, Wein und Likör blicken wir im Zeitraffer zurück, doch wie weit dehnt sich meine Zeit nach vorn? Was wird wann wie? Jedenfalls funktioniert meine vorbefundliche Ablenkungsstrategie: prächtige Tage.

**

Früh aufgewacht. Kann nicht mehr schlafen. Was bringt der Tag? Gefristete Zeit?

**

UKSH
Der Liebste fährt mich zur Klinik. In Kiel dirigiere ich ihn souverän durch den Stadtverkehr. Hier am besten diese, dort jene Spur, Achtung, da biegen immer Autos ab, Gefahrenunfallpunkt, im Parkhaus kannst du gleich in den 9. Stock fahren, in den unteren Etagen ist morgens um 9 Uhr schon alles voll (wir landen im 10.), komm, wir nehmen die Treppe ( – das Gelübde!).

Zweimal vergesse ich in der Strahlenambulanz, dass die Drehtür sich nicht automatisch dreht. Mein Gedächtnis ein Sieb.

In den dritten Stock gehen wir zu Fuß, selbstverständlich.

Die Sekretärin begrüßt mich mit den Worten: Ach, Sie sinds. Sie sehen von Mal zu Mal jünger aus. Vielleicht schaff ich es noch bis zum Teenager….

**

Schrei vor Glück! Stabiler Befund! Die radiochirurgisch traktierte Hirnmetastase scheint sich nicht vergrößert zu haben, das ist angesichts von 2mm nicht genau zu vermessen. In der Leber ist außer einigen Zysten nichts zu sehen. Die Ärztin lächelt. Wollen Sie ein Taschentuch? Nein. Ich lass die Freudentränen einfach laufen. Drei Monate dehnen sich vor mir, eine traumtänzerische Ewigkeit. Weihnachten ist gebongt.

Sie sind ein „außergewöhnlicher Fall“, bestätigt die Ärztin. Außer mir gibt es „nur noch einen Patienten von den „vielen, vielen, die hier durch die Ambulanz kommen“, der einen ähnlichen Krankheitsverlauf hat. Ich bin eine Galapagos-Schildkröte, survival of the fittest.

Der Professor für Strahlentherapie weist seine Sekretärin an: Geben Sie Frau S. einen Termin in einem Jahr. – In einem Jahr!! Zukunft, du kannst kommen. Sterben hat heute Pause.

**

Abends wienerwalzern wir zu „What a wonderful day.“

**

Schlafwandle auf meiner Glückswelle „multiple Metastasen sind nicht“. Organisiere mich um den Verstand und habe plötzlich drei Projekte am Hals. KrebsMal bleibt, dazu zwei Theaterprojekte, Premieren nächsten Sommer. Reitet mich der Teufel oder umarmt mich der Engel der Endlichkeitsvergessenheit? Ich, feuere mit Terminen um mich wie ein Luftgewehr und jage Ideen wie Raketen in den Himmel. Das fühlt sich alles unheimlich schnell und unheimlich gut und unheimlich unheimlich an. Aber jetzt tu ich einfach mal so, als habe sich das neue Zeitfenster verdammt weit geöffnet, drei Monate Raum haben sich aufgetan und ich schnuppere darin die frische Luft wie reinen Lebenssauerstoff, saug mir die Lungen bis zum Anschlag voll. Nach Luft japsen werd ich ein andermal. Jetzt trink ich das Leben und mich dabei um den Verstand.

**

Ich überlege gar nicht, ich kaufe mir auf dem Flohmarkt einen Rock und ein schwarzes Cocktailkleid, tragbar nur auf einem Ball. Der nächste wäre frühestens in einem halben Jahr, Abiball des Sohnes. Die nächste Messlatte rückt näher. Ich überlege schon, was ich anziehe. – Das schwarze Kleid könnte ich mir auch für den Sarg vorstellen.

**

Die Freundin schenkt mir zwei ihrer Kleider mit der ihr innewohnenden Großzügigkeit. Sind mir zu eng geworden. Trag du sie. Ich hab vier Kilo zugelegt und kann mich trauen, eine französische Größe 36 anzuprobieren. Passt wie angegossen. Drehwendpirouette mich zuhause vor dem Spiegel. Der Mann fasst mich um die eng geschnürte Taille, das Kleid lädt ein, Hand auf- und anzulegen. Das wär schön zum Tanzen, lacht er.

Ich trage meine Weiblichkeit in Röcken und Kleidern vor mich her. Für Leichensack und Asche bin ich noch nicht gemacht. –

**

Der Therapeut fragt: Gibt es etwas, womit Sie sich zu erklären versuchen, warum Sie noch leben? Ich forsche in meinem Gehirn, ich dreh und wende die Wörter darin einmal im Kreis, leg sie kreuzdiquer, aber es wollen keine Sätze aus meinem Mund fallen. Holpernd such ich nach Erklärungen.

Fest steht für mich: 1. Wenn es zuträfe, dass seelisches Unwohlsein Krankheit befördert, dann müsste ich, so schlecht wie es mir im letzten Jahr seelisch gegangen ist, längst tot sein. Das ist aber nicht der Fall, also bin ich möglicherweise ein genetisch bedingter sogenannter zäher Knochen. So hab ich meinen Vater immer insgeheim genannt, der hat zwei Herzinfarkte und zweimal Krebs überlebt. Nach dem ersten Infarkt Mitte vierzig – meine Kleinkinderinnerung weiß noch, dass es an dem Tag Knödel gab – hört er, zwei Schachteln am Tag, mit dem Rauchen auf, dreht sonntags konsequent 10 km um den Entenweiher und besteigt im Urlaub alpine Höhen. Erinnerungsfoto vom zweithöchsten Berg Europas. Mein Vater strahlt.

Mit 70 Verlust eines Stimmbands, zurück bleibt ein heiserer Grundton. Mit 82 Diagnose Kehlkopfkrebs, der Kehlkopf wird komplett entfernt. Mein Vater lernt wieder sprechen. Der Arzt staunt. Die Logopädin lobt.

Schau ich zurück, fällt mir ein, wie mich erst vier Bandscheibenvorfälle, dann mit 40 der Morbus Crohn die Gesundheitsachterbahn rauf und runter jagen. Das Stehaufmännchen, angeschubst, scheint umzustürzen, aber kippt gar nicht um, sondern richtet sich wieder auf, egal, wie brutal du dagegen stößt, das schafft es, die schwere Metallkugel im Boden, Köpfchen in die Höh.

**

2 responses on “Jahr 2: Endstadium

  1. Marie Götz

    Liebe Uli- ich bin von deinen Wörtern, deiner Arbeit hier auf diesen Seiten, deiner Energie und unglaubliche Mut überwältigt! Ich freue mich mit dir und deine Familie über die gute Nachricht.
    Die ganze Zeit als du von deinem Film-Projekt berichtigt hast und auch von den viele anderen Projekten, könnte ich immer nur staunen! Du erlebst mehr hier und jetzt, packst mehr rein und kriegst mehr von jedem Tag heraus als ich es in mehreren Jahren tue!
    Ich habe neulich einen Zitat von einer Schriftstellerin gelesen, die du zur Selbstverständlichkeit gemacht hast. Anne Dillard hat geschrieben: How we spend our days, of course, is how we spend our lives. ( Wie wir unsere Tage verbringen, ist natürlich, wie wir unser Leben verbringen.)
    So simpel aber so wahr! Letztendlich ist es nicht die Anzahl der Tage, die wir haben, das wichtig ist, sondern wie wir die Tage, die wir haben, leben! …Und du lebst deine Tagen in vollem Maß! Ich könnte viel von dir lernen…
    Liebe Grüße, Marie

  2. Adèle Gelzer

    Liebe Ulrike,
    Deine Texte bewegen mich sehr. Danke, dass Du mich teilhaben lässt – ich bewundere Dich, Deine Kraft und Dein positiver Wille. Ich wünsche Dir so sehr ein langes Leben voller Tanz, Liebe und Kreativität. Liebe Grüße Adèle

Schreibe einen Kommentar